Die Lebensgeschichten von Menschen mit Behinderungen werden in der Geschichtsschreibung und in Sammlungen oft vernachlässigt und daher auch nicht erzählt. Die Österreichische Mediathek hat in einer Interviewreihe in Kooperation mit dem Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim die erzählten Biografien von zehn Menschen mit Behinderung gesammelt und online aufbereitet: Leben mit Behinderung | Mediathek
Die Idee dieser Interviewreihe war es, Menschen mit Behinderungen über ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus ihrer Sicht sprechen zu lassen und sehr unterschiedliche Lebensläufe zu sammeln. Fünf Frauen und fünf Männer erzählen von Kindheit und Familie, von Urlaub und Reisen, von Schulbildung und Hobbys, von Beziehungen und Arbeitsalltag, von Sehnsüchten, Wünschen und Träumen. Sie thematisieren zugeschriebene oder tatsächliche Beeinträchtigungen, Hilfebedarfe und Barrieren im Alltag. Die Interviewpartner*innen sprechen auch über Aufenthalte in verschiedenen Betreuungseinrichtungen und Wohnheimen, über ihre Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden und über die Herausforderungen des Lebens im Rollstuhl oder mit persönlicher Assistenz. Selbstbestimmung ist in allen Interviews ein zentrales Anliegen.
Thomas Straßer an seinem Arbeitsplatz im Lern-und Gedenkort Schloss Hartheim, 2021
„Nothing about us, without us” in der Geschichtswissenschaft!?
Von Lisa Maria Hofer
Das in diesem Beitrag dargestellte Forschungsprojekt präsentierte Lisa Maria Hofer bei der 2. DiStA Forschungswerkstatt 2023.
Der Geschichtswissenschaft kommt in vielen Bereichen eine identitätsstiftende Wirkung zu. Interpretationen der Vergangenheit haben einen Einfluss darauf, wie Gemeinschaften die Gegenwart deuten und letztlich auch wie sie ihre Zukunft gestalten. Die Geschichtswissenschaft ist aber räumlich und zeitlich an die jeweilige Gegenwart gebunden in der sie agiert. Anders ausgedrückt, nur aus der jeweiligen Gegenwart heraus kann man auf die Vergangenheit schauen. Alle Historiker-innen unterliegen dabei einer sogenannten Standortgebundenheit, die mindestens zwei Ebenen kennt, denn einerseits ist die forschende Person an ihre Zeit gebunden, andererseits auch an die eigene Sozialisation, die einen gewissen Bias in der Art der Fragestellung bedingt, bzw. auch die Lesarten und die Interpretation der Quelle beeinflussen kann. Wiederum die Fragen können aus aktuellen Problematiken resultieren, können aber auch schlichtweg ihren Ursprung im persönlichen Erkenntnisinteresse der-des Historiker-in haben.[1]
Ein weiterer Eckpfeiler der historischen Arbeit ist es, dass die verwendeten Quellen aus verschiedenen Perspektiven heraus verfasst sein sollen, um ein möglichst umfassendes Bild zeichnen zu können und der erkenntnisleitenden Frage gerecht zu werden. Man spricht von Multiperspektivität. Natürlich sind hier mit großer Wahrscheinlichkeit Leerstellen zu erwarten, da niemand anhand künftiger Fragestellungen Archivalien sammelt und überliefert. Multiperspektivität berücksichtigen zu können, hängt also auch von Überlieferungspraxen und Wertzuschreibungen der untersuchten Vergangenheit ab.[2]
Der historische Forschungsprozess sieht weiters vor, eine Quellenkritik durchzuführen, die inhaltliche und materielle Authentizität untersucht. So entsteht allerdings noch keine fertige historische Darstellung, denn die Quellen sollten noch in einen theoretischen Rahmen gestellt werden, bzw. die bisherige Literatur zum Thema einbezogen werden.[3]
Partizipative Sozialforschung bedeutet, dass Gruppen in den Forschungsprozess einbezogen werden, die durch ihre Sozialisation bzw. ihren bisherigen Lebenslauf einen inhaltlichen Beitrag im Forschungsprozess leisten können. Für die Geschichtswissenschaft/Sozialwissenschaft gibt es dazu bisher ein Referenzprojekt: „Das Bildnis eines behinderten Mannes“[4]. In diesem Projekt forschte eine interdisziplinäre Gruppe, auch mit Mitforschenden ohne wissenschaftliche Ausbildung, an der namengebenden Bildquelle (Entstehungszeit ca. 16. Jahrhundert) aus dem Schloss Ambras in Innsbruck und legte am Ende einen historischen bzw. sozialwissenschaftlichen Forschungsbericht vor. Alle Perspektiven wurden in der Interpretation als wertvoll erkannt und zu einer Narration verwoben, die Theorie und weitere historische Quellen miteinbezog. Die Interpretation oblag nicht alleine einer Person.[5]
Anhand dieses Referenzprojekts wurde für die Erforschung der historischen Konstruktion von Behinderung in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht am Beispiel der sogenannten Taubstummenanstalt zwischen 1812 und 1869 ein Forschungsdesign entwickelt, dass die deaf community in die Quellensichtung miteinbezieht. Zu diesem Zweck wurden bisher drei lebensgeschichtliche Interviews mit Quellenbezug geführt. Dazu wurde eine barrierefreie Kommunikation und deren Finanzierung sichergestellt. Die Interviews wurden über Zoom geführt und derzeit laufen die Auswertungen. Gemeinsam mit den Interviewpartner-innen wurde zunächst die Entstehungsgeschichte der Taubstummenanstalt Linz zwischen 1812 und 1869 besprochen, darauffolgend wurden allgemeine persönliche Daten zu den Personen selbst erhoben und anschließend verschiedene Quellen gemeinsam gelesen und diese anhand von Leitfragen diskutiert. Diese Leitfragen waren aber kein starres Korsett, sondern eher eine Diskussionsanregung.[6]
Partizipative Geschichtsforschung
Das Projekt zum Linzer Taubstummeninstitut untersucht die Rolle von Schüler-innen, Lehrkräften und Erziehungsberechtigten in der sozialen und wirtschaftlichen Konstruktion von Behinderung. Der Teilaspekt der Zukunftsaussichten von Schüler-innen mit Gehörlosigkeit steht hier als Beispiel für die Ergebnisse dieser Diskussion mit der deaf community. Im Taubstummeninstitut Linz besuchten zwischen 1812 und 1869 953 Schüler-innen den Unterricht. Bei 120 wurde der weitere berufliche Werdegang dokumentiert. Lediglich ein Schüler besuchte eine weiterführende Ausbildung, die übrigen 119 erlernten einen Handwerksberuf oder arbeiteten im Dienstleistungssektor. Dieses Ergebnis ist zunächst nicht verwunderlich, wenn man Urs Haeberlins „doppelte Realität“[7] des niederen Schulwesens in der Interpretation anwendet. Auch im Regelschulwesen, also ohne Vorliegen von Gehörlosigkeit, war das Schulwesen im 19. Jahrhundert wenig durchlässig, wenn die Familien der Jugendlichen keinen hohen sozioökonomischen Status hatten. Erstaunlich sind eher die Ergebnisse aus den Interviews, die die Erfahrungswelten der deaf community aus den letzten 30 Jahren zeigen. Vertreter-innen der Gemeinschaft gaben in den an, dass die Berufsberatung noch immer in Richtung Lehrberuf geht und eine höhere Bildung auch systemisch nicht vorgesehen ist, was bedeutet, dass die barrierefreien Voraussetzungen in Österreich nicht vorhanden sind. Sie stellten im Gespräch einen direkten Zusammenhang zwischen sich selbst und ihrer Sozialisation und den Inhalten der historischen Quellen her.[8]
Eine weitere zentrale Rolle spielt die zusätzliche Pathologisierung, die häufig durch die Schule erfolgte, denn bereits zwischen 1812 und 1869 fällt auf, dass von 953 Schüler-innen 237 das Label „blödsinnig“[9] erhalten, was in der heutigen Terminologie einer verminderten Bildungsfähigkeit gleichkommt. Die Unterscheidung zwischen einer kognitiven Einschränkung und der Beeinträchtigung des Hörapparats wurde im 19. Jahrhundert im Taubstummeninstitut Linz nicht klar getroffen. Es existierten keine Kriterien für diese pädagogische Diagnose. Auffällig ist jedoch, dass auch heute noch Vertreter-innen der deaf community von ähnlichen Erfahrungen berichten, wonach die Schüler-innen gehörlos in ihre Schulkarriere starten und am Ende zusätzlich zur sensorischen Beeinträchtigung eine kognitive Lernschwäche attestiert bekommen. Die Untersuchungskriterien werden als undurchsichtig empfunden, bzw. als nicht angepasst an die Bedürfnisse eines Kindes ohne Gehör, da in Lautsprache geprüft wird. [10]
Als vorläufiges Kurzfazit zu diesem Werkstattbericht sollen folgende Fragen stehen: Warum leistet man sich in Österreich eines der teuersten Bildungssysteme weltweit, wenn man Inklusion nicht umsetzt und an über 200 Jahre alten Strukturen festhält? Welche Funktion will das österreichische Bildungswesen erfüllen? Selektion oder Inklusion?
Gesetzliche Anpassungen, die für die deaf community einen Bildungsweg bis in die Oberstufe ermöglichen würden, sind überfällig und verstoßen damit gegen die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention aus 2008. Damit diese Änderung stattfinden kann, wurden schon zahlreiche Petitionen[11] gestartet, doch würde ein Präzedenzfall vielleicht eher zu einer gesetzlichen Änderung beitragen, der aber viel Zeit, Mühe und Kosten für Interessensvertretungen bedeuten würde. Die gesetzliche Basis wird dazu alleine nicht ausreichen, es müssen auch andere Maßnahmen getroffen werden, etwa eine inklusivere Berufsberatung, am besten durch role models in Schulen, oder den flächendeckenden Ausbau von Fördermöglichkeiten. Gleichzeitig müssen künftige Lehrkräfte aller Schulstufen entsprechend sensibilisiert sein und im besten Fall schon im Studium mit Beratungsstellen in Kontakt kommen.
Inklusion im Bildungswesen ist insgesamt als ein Entwicklungsprozess zu begreifen, der zunächst die historischen Anfänge der Institutionen aufarbeiten sollte und in Verbindung mit Erfahrungswelten der letzten Jahrzehnte nicht nur eine Argumentationsbasis darstellen kann, sondern die Basis für Kritik und Verbesserungsvorschläge bildet.
Lisa Maria Hofer studierte Geschichte und Germanistik als Lehramtsfächer für die Sekundarstufe II an der Universität Salzburg. Aktuell arbeitet sie als Universitätsassistentin an der Universität Linz.
[1] Vgl. Jordan, Stefan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. 3. Aufl., Wien u.a. 2016, S. 15 – 17, S. 47 – 49.
[2] Vgl. Klaus Bergmann, Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Wochenschau Schwalbach/Ts. 2000.
[3] Klaus Arnold: Der wissenschaftliche Umgang mit Quellen. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. 2. Auflage. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 42–58, hier S. 5.
[4] Vgl. Christian Murner, Volker Schönwiese, Hg., Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. Bis 21. Jahrhundert. Ausstellungskatalog und Wörterbuch. Neu-Ulm 2006.
[5] Vgl. Rico Defila & Antonietta Di Giulio, Partizipative Wissenserzeugung und Wissenschaftlichkeit – ein methodologischer Beitrag, in: Rico Defila & Antonietta Di Giulio (Hg.), Transdisziplinär und transformativ forschen, Eine Methodensammlung, Wiesbaden 2018, S. 39 – 69, S. 55 – 60; Petra Flieger, (2003), Partizipative Forschungsmethoden und ihre konkrete Umsetzung. bidok:: Bibliothek :: Flieger – Partizipative Forschungsmethoden und ihre kon… (uibk.ac.at).
[7] Vgl. Urs Haeberlin (2006): Schule, Schultheorie, Schulversuche. In: Georg Antor (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer, S. 276–279, S. 276.
[9] Diözesanarchiv Linz, Catalog der k.k. Provincial-Taubstummen Lehranstalt Linz seit der Zeit ihres Entstehens im Jahre 1812
[10] Vgl. Diözesanarchiv Linz, Catalog der k.k. Provincial-Taubstummen Lehranstalt Linz seit der Zeit ihres Entstehens im Jahre 1812, Lebensgeschichtliche Interviews mit Frau W. März 2023
„Licht ins Dunkel“ dominiert in der vorweihnachtlichen Zeit, Betroffene kritisieren die Spendenaktion seit Jahren. Nun gibt es endlich die andere Sichtweise auf das „charity „business“. Das inklusive Onlinemagazin „andererseits“ veröffentlichte eine kritische Dokumentation zur ORF-Spendenaktion.
Wir empfehlen hierzu: Paul Longmore Telethons: Spectacle, Disability, and the Business of Charity New York: Oxford University Press, 2016.
Der US-Historiker und Aktivist Paul Longmore starb 2010. Er hinterlies ein Manuskript über die Wohltätigkeits-Telethons im US-amerikanischen Fernsehen, welches Kolleg-innen aus den Disability Studies vervollständigten und publizierten. Longmore zeigt, dass Telethons viel komplexere Aktivitäten waren, als man bei flüchtiger Betrachtung vermuten würde. Telethons waren einer der Schauplätze, die viele nichtbehinderte Amerikaner und einige behinderte Amerikaner ermöglichten, behinderte Menschen auf oberflächliche Weise darzustellen und sie als Karikaturen ihres Behindertenstatus zu reduzieren. Longmores kritischer Fokus ist nicht nur auf diese Spenden-Fernsehprogramme gerichtet. Er kritisiert die ganze Welt, die hier involviert ist, das gesamte soziale Universum, das Telethons als Phänomen hervorgebracht hat. Aus der Rezension: https://dsq-sds.org/article/view/5388/4478
Von der Kretinenanstalt zur Inklusion – ein Kurzfilm informiert über die europaweit erste Einrichtung für Menschen mit Lernschwierigkeiten bis hin zur heutigen Inklusionspädagogik: „Bildung inklusive“
Die Historikerin Lisa Maria Hofer hat die Geschichte dieser Schule erforscht, im Film sehen wir die Quellen und die Entwicklung. Johannes Hollweger und Sabine Thaler sind junge Menschen mit Lernschwierigkeiten, sie erzählen über Bildung und Ausbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten heute. Robert Schneider-Reisinger von der Pädagogischen Hochschule Salzburg kommt zum Thema Inklusionspädagogik heute zu Wort.
Kretin oder Ketinismus war damals eine Beschreibung eines Krankheitsbildes. Heute wird der Begriff nicht mehr verwendet und als abwertend empfunden. Auch was damals noch großer Fortschritt war, nämlich dass es eigene Unterrichtsanstalten für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gab, ist heute längst nicht mehr zeitgemäß.
Gotthard Guggenmoos gründete in Salzburg die erste Schule für Kinder mit Lernschwierigkeiten, im Jahr 1816 zunächst in Hallein, sowie mit Gehörschädigung eine private Schule. 1829 wurde die Schule nach Salzburg in die Judengasse 63 verlegt. Die Schule bekam keine öffentliche Förderung. Warum es die Schule gab, lag hauptsächlich am Engagement des Lehrers Guggenmoos.
Siehe: Hofer, Lisa Maria: „Die Schuljugend erscheint […] in Feyertagskleidung, vorzüglich reinlich gewaschen und gekämmt.“ Zwischen Appeasement-Pädagogik und Inklusion im Salzburger Elementarschulwesen von 1810 bis 1830. (Masterarbeit Univ. Salzburg 2018)
Das staatliche Schulsystem entstand an der Schwelle zum 19. Jahrhundert und hatte vorwiegend militärische und wirtschaftliche Ziele im Blick. Zudem war es notwendig, in einer komplexer werdenden Welt die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen zu beherrschen. Das unterfinanzierte Regelsystem wurde jedoch vor die Herausforderung gestellt, Schüler:innen zu beschulen, die unter einer Beeinträchtigung litten, was anderer Methodiken bedurft hätte. Die vollständige Durchsetzung der Schulpflicht gelang erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, denn grundsätzlich waren dazu keine Ausnahmen aufgrund einer vorliegenden Beeinträchtigung vorgesehen. Im Laufe des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Schulen, die später als Sonderschulen oder Hilfsschule bezeichnet wurden, die Schüler:innen zusammenfassten, die unter ähnlichen Beschwerden litten. Zu nennen sind dazu zahlreiche Taubstummenanstalten, die Blindeninstitute und die sogenannten Kretinenanstalten[1], letztere waren jedoch mit einer Salzburger Ausnahme in der Habsburgermonarchie als Verwahranstalten konzipiert.
Das Taubstummenunterrichtswesen, wie es die Forschung häufig bezeichnet, nahm ihren ersten Aufschwung im Spanien der Renaissance und fand in Südeuropa immer mehr Anhänger, was schließlich den ersten Höhepunkt in der staatlichen Gründung der Taubstummenschule von Abbé l’Epée in Frankreich hatte. Von dort aus fand die Beschulungsmethode ihren Weg in die Habsburgermonarchie und bildete mit dem Wiener Taubstummeninstitut 1779 den Ankerpunkt für alle Institutsgründungen in der Monarchie: Das Linzer Taubstummeninstitut wurde in Linz 1812 von Michael Reitter, einem Priester, gegründet und besteht in veränderter Form bis heute (2022) als eine Mittelschule unter dem Namen des Gründers. Als die Schule 1812 eröffnet wurde, gab es keine verbindlichen staatlichen Vorgaben für den pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die gehörlos waren. Dennoch war es in Taubstummeninstituten der Monarchie ein ungeschriebenes Gesetz, sich mit der Anstalt in Wien zu vernetzen. Was sich daraus ergab, waren private Initiativen, die oft im Rahmen eines kirchlichen Engagements integriert wurden, was auch auf das Fallbeispiel in Linz zutrifft.
Michael Reitter organisierte den Unterricht anfangs als Nebentätigkeit zu seinem Hauptberuf als Priester und entwickelte die Idee zu seiner Schule aus dem von ihm abgehaltenen Firmunterricht. Später ließ er sich in Wien am Taubstummeninstitut ausbilden und pflegte umfassende Netzwerke zu finanziell-potenten Partner:innen und der Kirche selbst. Außerdem schrieb er ein breit rezipiertes Methodenbuch zum Unterricht von sogenannten Taubstummen, wie er selbst seine Schüler:innen bezeichnete. 1818 übergab er nach einer Versetzung als Priester die Leitung an Michael Bihringer, der die Schule in der pädagogischen Ausrichtung nicht maßgeblich veränderte und weiter die Methode nach Reitter anwenden ließ. Ihm folgte schließlich 1831 Johann Aichinger, der sich vermehrt wissenschaftlich betätigte und auch großen Einfluss im oberösterreichischen Landtag hatte. Zudem leitete er auch das neu gegründete Heim für sogenannte „Kretinen“ in Hartheim. Als Johann Aichinger 1864 verstarb, folgte ihm Johann Brandstätter, der in Berichten als kränklich beschrieben wird und wenig am Institut veränderte und die Leitung bis 1888 innehatte.[2]
Das ehemalige „Siechenhäusel“ wird zur „Taubstummenanstalt“ (https://michaelreitter.eduhi.at/)
Partizipatorischer Ansatz in historischer Forschung
Um die Kategorie Behinderung entsprechend behandeln zu können, und dem Problem der fehlenden Quellen aus der Perspektive der Betroffenen entgegenzuwirken, sollen hier umfassende Vorüberlegungen und Reflexionen darüber angestellt werden, wie eine partizipative Geschichtsforschung aussehen kann und welche Faktoren es im Vorfeld, in der Durchführung zu bedenken gilt.[3]
Primäre Intention des Projekts ist es, Betroffene in die historische Forschung miteinzubeziehen und keine Geschichte über das Phänomen der Behinderung zu schreiben, sondern eine reale Einbindung in die Diskursgeschichte zu schaffen. Mit der Einbindung des OÖ Gehörlosenverbandes, soll verstärkt dessen Perspektive in die historische Forschung zu Gehörlosen eingebracht werden. Es ist für die Teilnahme am Workshop nicht erforderlich, dass die Teilnehmer:innen in der historischen Arbeit geschult, sind, oder umfassendes Vorwissen zum Gegenstand mitbringen, es geht vor allem um ihre persönlichen Erfahrungswelten, die sie mit den vergangenen Ereignissen in Beziehung setzen. Die Leitfrage in der gemeinsamen Arbeit an den Quellen ist: Welche Ähnlichkeiten/Unterschiede kann ich im Vergleich zu meinem Leben feststellen?
Die Teilnahme am Forschungsdiskurs von Betroffen bringt auch die Forschung der angestrebten Dissertation auf ein qualitativ hochwertigeres Niveau und kann in weiterer Folge einer politischen Diskussion als Grundlage dienen, die sich auch in der Gegenwart für Inklusion stark macht. Zunächst ist die Frage zu klären, wann im Rahmen einer historischen Forschung der geeignete Zeitpunkt ist, um Mitforschende einzubeziehen. Unter Mitforschenden wird in diesem Zusammenhang eine Personengruppe verstanden, die von Gehörlosigkeit betroffen ist und durch diese Betroffenheit differenzierte Interpretationsansätze für die historischen Quellen liefern kann. Dies muss erst nach Sichtung und erster Verortung der Quellen sinnvoll sein.[4]
Das Ziel des Teilprojektes der Dissertation ist es, dass der Kreis der Interpretatoren einer historischen Quelle erweitert wird und sogenanntes Systemwissen generiert wird. Durch dieses Systemwissen rund um die Interpretation, soll die Entwicklung und der lebensweltliche Bezug eines historischen Problems gezeigt werden. Dadurch wird eine Systemdarstellung angestrebt, die der Perspektive der Betroffenen einen Part in der Geschichtsschreibung zugesteht.[5]
Einladung zur Premiere des Kurzfilmes über die europaweit erste Einrichtung für Menschen mit Lernschwierigkeiten – die damals sogenannte „Kretinenanstalt“.
Lisa Maria Hofer hat die Geschichte dieser Schule erforscht, im Film werden Quellen gezeigt, sie erzählt im Vortrag darüber. Der Film zeigt auch, wie sich Inklusionspädagogik entwickelt hat.
Barrierefrei zugänglich, auf Wunsch Übersetzung in Gebärdensprache möglich. Eintritt frei. Eine Veranstaltung im Monat der Vielfalt: www.stadt-salzburg.at/monatdervielfalt
Lesetipp für alle die mehr über die Geschichte von Menschen mit Lernschwierigkeiten in Salzburg lesen wollen: Inghwio aus der Schmitten: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung Verlag UMBRUCH. WERKSTATT für Gesellschafts- und Psychoanalyse, Salzburg 1985, bidok – Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/schmitten-schwachsinnig.html
Österreichische Wissenchaftler*innen rund um Volker Schönweise haben in einem Projekt die Geschichte der Behindertenbewegung und Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich systematisch aufgearbeitet und ihre Ergebnisse in einem Archiv der der Bidok – der barrierefreien digitalen Bibliothek zu Behinderung und Inklusion frei zur Verfügung gestellt. Ziel war es, der Behindertenbewegung in Österreich ein Gedächtnis zu geben. Das Archiv enthält neben ausführlichen, in den 1920ern startetenden, Zeitleisten und wichtigen Zeitdokumenten auch Interviews mit Zeitzeug*innen. So sind Interviews mit 14 Aktivist*innen in Video- und Transkriptform verfügbar.
Diese Anstrengungen wurden nun von der amerikanischen US Disability History Association mit dem Public Disability History Award belohnt, eine alle zwei Jahre vergebene Auszeichnung, die Arbeiten rund um Geschichte von Behinderung würdigt und mit einem symbolischen Preis von 200 Dollar dotiert ist.
„We are pleased to announce the second biennial Disability History Association Public Disability History Award goes to the Digital Archive of the Disability Rights Movement in Austria. This project was submitted by Volker Schönwiese, University of Innsbruck, Petra Flieger, Independent researcher, and Josefine Wagner, University of Innsbruck.“ (Quelle: The Disability History Association)
Im Rahmen der Ringvorlesung „NS-Medizin, ihre Kontexte und Nachgeschichte – Das Beispiel Burghard Breitner“ des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck hielt Univ. Prof. Dr. Volker Schönwiese am 7. Dezember 2021 einen Online-Vortrag. Dieser widmete sich dem Thema der Entwicklung der Behindertenhilfe in Österreich vor dem Hintergrund des verdrängten Erbes der NS-Medizin.
Die Spezialausgabe der Stimme (Zeitschrift der Initiative der Minderheiten) anlässlich 100 Jahre Behindertenbewegung in Österreich ist kürzlich erschienen. Sie entstand in redaktioneller Kooperation mit Volker Schönwiese, Petra Flieger und Angela Wegscheider sowie bidok – der digitalen Bibliothek zu Behinderung und Inklusion.
Die Beiträge widmen sich der Geschichte der Ersten und Zweiten Behindertenbewegung in Österreich und erforschen den Kampf für Selbstbestimmt Leben und Gleichstellung. Jedem Artikel vorangestellt ist eine Zusammenfassung in leicht verständlicher Sprache.
Der Schwerpunkt beginnt mit einem Porträt über Siegfried Braun, zentraler Vertreter der ersten österreichischen Behindertenbewegung in den 1920er Jahren – ermordet 1944 in Auschwitz. Eine Langfassung dieser Erstveröffentlichung finden Sie auf bidok.at.
Die beiden folgenden Texte befassen sich mit der Geschichte der Institutionalisierung behinderter Menschen sowie mit Zielen und Forderungen der Ersten österreichischen Krüppelarbeitsgemeinschaft in der Zwischenkriegszeit.
Auch wenn sich die Selbsthilfeverbände nach 1945 neu formierten, konnte die Kontinuität der Institutionalisierung erst mit der Entstehung der Selbstbestimmt Leben Bewegung ab den 1970er Jahren gebrochen werden – ein Beitrag, der die Strategien dieser hoch politischen Graswurzel-Bewegung aufzeigt.
Der Kampf der jungen Behindertenbewegung gegen Gewalt und Segregation in Heimen Anfang der 1980er Jahre wird am Beispiel der Proteste gegen die Missstände im Institut Hartheim illustriert. Die Behindertenhilfe als sozial- und wirtschaftspolitisch bedeutsamer Sektor und die Forderungen der Selbstbestimmt Leben Bewegung sind das Thema eines weiteren Beitrags.
Österreich erntete wegen der fehlenden Interessensvertretungen von Frauen mit Behinderungen Kritik von der UNO. Im Schwerpunkt werden die zahlreichen Versuchen der Vernetzung, wiederholtes Scheitern – und die neue Hoffnung thematisiert.
Etwas später als die Selbstbestimmt Leben Bewegung entwickelte sich die Bewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten: „People First“ oder „Mensch Zuerst“.
Für das Dokumentations- und Forschungsprojekt „Geschichte der Behindertenbewegung in Österreich“ wurden Interviews mit Gründerinnen und Gründern der Selbstbestimmt Leben Bewegung geführt. Im Heft werden prägnante Passagen aus den Gesprächen vorgestellt. Die gesamten Interviews sind auf bidok.at zu finden.
Die neu gestaltete Dauerausstellung in Schloss Hartheim trägt den Titel „Wert des Lebens“. Florian Schwanninger, Leiter des Lern- und Gedenkorts, führt durch die Ausstellung, die Fragen zu Behinderung, Sozialpolitik, Ethik, Medizin und Biotechnologie aufgreift.
In der Nachlese des Heftes bespricht Stefan Schweigler eine Sendung anlässlich des Weltradiotages 2019: (Anti-)Diskriminierung von Gehörlosen und Schwerhörigen am Beispiel des „Hörfunks“. Duygu Özkan schließlich porträtiert Monika Rauchberger, Aktivistin und Frontfrau der österreichischen People-First-Bewegung.
Wir danken der Reaktion der Stimme der Minderheiten, insbesondere Gamze Ongan und Cornelia Kogoj, für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.
STIMME: Vierteljahrespublikation zu minderheitenspezifischen Schwerpunktthemen Jahresabo Euro 20.-, 2 Jahresabo Euro 38.- Sie erreichen unser Aboservice unter abo@initiative.minderheiten.at
Anlässlich 100 Jahre Behindertenbewegung erscheint ein Schwerpunktheft zur Geschichte der Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich. Die Zeitschrift „Stimme der Minderheiten“ widmet sich in unterschiedlichen Beiträgen dem schon jahrhundertlang währenden Kampf für Selbstbestimmt Leben und Gleichstellung.
Die Sonderausgabe entstand in redaktioneller Zusammenarbeit mit Volker Schönwiese, Petra Flieger und Angela Wegscheider und erscheint in der zweiten Junihälfte.