Intersektionalität

Der Begriff Intersektionalität stammt aus dem politischen und akademischen Feminismus. Im Mittelpunkt dieses Konzepts standen zunächst Fragen zu dem Ausschluss von Differenz und Ungleichheit unter Frauen. In den aktuellen Gender Studies fokussiert Intersektionalität für gewöhnlich auf die Verwobenheit verschiedener gesellschaftlicher Diskriminierungsachsen und Differenzkategorien, wie beispielsweise Geschlecht, Alter, Sexualität, Migration, Ethnizität, Heteronormativität  oder Behinderung. In der Hauptsache markieren feministische Intersektionalitätsansätze einen Perspektivenwechsel, den man als Abkehr von einem Modell der Mehrfachunterdrückung hin zu einer Theorie der Differenz bezeichnen kann. Gegenstand der feministischen Intersektionalitätsforschung sind demnach Hervorbringungsverhältnisse von Geschlecht  und weniger Unterdrückungsverhältnisse von Geschlecht. Inzwischen wird die feministische Intersektionalitätsforschung verstärkt von den Disability Studies erörtert. Für die Disability Studies bedeutet Intersektionalität im Anschluss an die Gender Studies, zu diskutieren, ob und inwieweit andere Differenzkategorien jenseits von Behinderung relevant sind. Behinderung lässt sich somit nicht auf eine einzige Macht- und Herrschaftsdimension – etwa Behindertenfeindlichkeit – reduzieren. In diesem Zusammenhang kann Behinderung als einzige zentrale Kategorie der Disability Studies relativiert werden. Mit Bezug darauf gilt es stattdessen die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Differenzkategorien und Machtverhältnissen auszuloten. Denn die Fokussierung auf Behinderung als einzige Kategorie der Disability Studies blendet nicht nur andere Diskriminierungsformen wie Homophobie, Sexismus und Rassismus tendenziell aus; sie kann diese auch theoretisch nicht integrieren. Intersektionalität in den Disability Studies ist insofern als ein Analysemodell zu verstehen, das mit mehreren, nicht hierarchisch angeordneten Differenzkategorien operiert. Auf diese Weise kann Behinderung als Teil eines multikategorialen Forschungsdesigns neu bestimmt werden. Ebenfalls beinhaltet dieses Modell einen multiplen Behinderungsbegriff der die Vielzahl von Behinderungsformen umfasst. Als Stichwort sei hier nur auf die Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von sichtbaren und unsichtbaren Behinderungsformen verwiesen. Als ein weiterer zentraler Aspekt berücksichtigt Intersektionalität folglich die internen Verflechtungen innerhalb von Behinderung. Ein multiples Verständnis von Behinderung bedeutet darüber hinaus zu fragen, inwieweit wird eine behinderte lesbische Frau mit Migrationshintergrund wegen ihrer Behinderung, ihrer ethnischen Herkunft, aufgrund von Geschlecht oder wegen ihrer Homosexualität diskriminiert? Behinderung als homogene Identität wird in diesem Konzept hinterfragt. Gemäß des Intersektionalitsansatzes ist Identität von Pluralität und Heterogenität durchzogen und auch nicht herrschaftsfrei zu denken. Intersektionalitätsforschung in den Disability Studies geht darüber hinaus von einer umfassenden Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus. Vorstellungen eines einheitlichen Ganzen des Gesellschaftlichen werden verabschiedet. Gesellschaft besteht aus unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Praktiken, Denkarten und Bereichen. Intersektionalitätsforschung in den Disability Studies strebt also danach gesellschaftliche Teilungsverhältnisse neu zu denken und komplexere Rahmungen für die Formulierung von Forschungsdesigns zu entwickeln. Intersektionalität in den Disability Studies zielt darauf Interventionen in herkömmliche grundbegriffliche Rasterungen in der wissenschaftlichen Erforschung von Behinderung vorzunehmen. Es geht darum ein erkenntnistheoretisches Modell zu entwickeln, welches weitreichende Transformationen der Gesellschaft, im Kontext neoliberaler Deregulierungen, theoretisch und analytisch einzufangen vermag. Der Gewinn von Intersektionalitätsforschung in den Disability Studies liegt somit in dessen mehrdimensionalen Herangehensweise: Mit diesem Ansatz werden eine angemessene Einschätzung von Behinderung und deren verwobenen Bezüge mit weiteren Macht- und Herrschaftsverhältnissen möglich. Zugleich eröffnet Intersektionalität eine neuartige kategoriale Bestimmung von Behinderung im Kontext einer kritischen Zeitdiagnose der Gegenwart.

von Heike Raab

Literatur

–        Goodley, Dan, Bill Hughes, Lennard Davis (eds.): Disability ands social Theory. New Develpoments and directions, PALGRAVE Macmillan 2012.

–        Raab, Heike (2007): Intersektionalität in den Disability Studies: Zur Interdependenz von Disability, Heteronormativität und Gender, in: Werner Schneider, Anne Waldschmidt (Hrsg.), „Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld“. Bielefeld 2007, Transcript-Verlag, S.127-151.

–        Raab Heike (2010): Shifting the Paradigm: „Behinderung, Heteronormativität und Queerness“, in: Swantje Köbsell, Jutta Jacob, Eske Wollrad, Gendering Disability. Behinderung und Geschlecht in Theorie und Praxis, Bielefeld, S. 73-95.

–        Radical History Review: Special Issue: Disability and History,  Issue 94, Winter 2006.

–        Waldschmidt, Anne (2005): „Disability Studies. Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung“. In: Psychologie und Gesellschaftskritik, 29 Jahrgang, Nummer 1, S. 9-33.

–        Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin (2007): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/Farmington

–        Watson, Nick, Roulstone, Alan, Thomas, Carol (ed.): Routledge Handbook of Disability Studies, Routledge 2012.

–        Zander, Michael (2004): „Independent Living“. In: W. F. Haug (Hg.),  Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 6/II, Hamburg: Argument Verlag, S. 873-883.