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Erste „Taubstummenanstalt“

Das Linzer Taubstummeninstitut (1812 – 1869) – Ein Forschungsprojekt

Lisa Maria Hofer (Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz) über ihren Beitrag präsentiert in der DiStA-Forschungswerkstatt:

Das staatliche Schulsystem entstand an der Schwelle zum 19. Jahrhundert und hatte vorwiegend militärische und wirtschaftliche Ziele im Blick. Zudem war es notwendig, in einer komplexer werdenden Welt die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen zu beherrschen. Das unterfinanzierte Regelsystem wurde jedoch vor die Herausforderung gestellt, Schüler:innen zu beschulen, die unter einer Beeinträchtigung litten, was anderer Methodiken bedurft hätte. Die vollständige Durchsetzung der Schulpflicht gelang erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, denn grundsätzlich waren dazu keine Ausnahmen aufgrund einer vorliegenden Beeinträchtigung vorgesehen. Im Laufe des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Schulen, die später als Sonderschulen oder Hilfsschule bezeichnet wurden, die Schüler:innen zusammenfassten, die unter ähnlichen Beschwerden litten. Zu nennen sind dazu zahlreiche Taubstummenanstalten, die Blindeninstitute und die sogenannten Kretinenanstalten[1], letztere waren jedoch mit einer Salzburger Ausnahme in der Habsburgermonarchie als Verwahranstalten konzipiert.

Das Taubstummenunterrichtswesen, wie es die Forschung häufig bezeichnet, nahm ihren ersten Aufschwung im Spanien der Renaissance und fand in Südeuropa immer mehr Anhänger, was schließlich den ersten Höhepunkt in der staatlichen Gründung der Taubstummenschule von Abbé l’Epée in Frankreich hatte. Von dort aus fand die Beschulungsmethode ihren Weg in die Habsburgermonarchie und bildete mit dem Wiener Taubstummeninstitut 1779 den Ankerpunkt für alle Institutsgründungen in der Monarchie: Das Linzer Taubstummeninstitut wurde in Linz 1812 von Michael Reitter, einem Priester, gegründet und besteht in veränderter Form bis heute (2022) als eine Mittelschule unter dem Namen des Gründers. Als die Schule 1812 eröffnet wurde, gab es keine verbindlichen staatlichen Vorgaben für den pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die gehörlos waren. Dennoch war es in Taubstummeninstituten der Monarchie ein ungeschriebenes Gesetz, sich mit der Anstalt in Wien zu vernetzen. Was sich daraus ergab, waren private Initiativen, die oft im Rahmen eines kirchlichen Engagements integriert wurden, was auch auf das Fallbeispiel in Linz zutrifft.

Michael Reitter organisierte den Unterricht anfangs als Nebentätigkeit zu seinem Hauptberuf als Priester und entwickelte die Idee zu seiner Schule aus dem von ihm abgehaltenen Firmunterricht. Später ließ er sich in Wien am Taubstummeninstitut ausbilden und pflegte umfassende Netzwerke zu finanziell-potenten Partner:innen und der Kirche selbst. Außerdem schrieb er ein breit rezipiertes Methodenbuch zum Unterricht von sogenannten Taubstummen, wie er selbst seine Schüler:innen bezeichnete. 1818 übergab er nach einer Versetzung als Priester die Leitung an Michael Bihringer, der die Schule in der pädagogischen Ausrichtung nicht maßgeblich veränderte und weiter die Methode nach Reitter anwenden ließ. Ihm folgte schließlich 1831 Johann Aichinger, der sich vermehrt wissenschaftlich betätigte und auch großen Einfluss im oberösterreichischen Landtag hatte. Zudem leitete er auch das neu gegründete Heim für sogenannte „Kretinen“ in Hartheim. Als Johann Aichinger 1864 verstarb, folgte ihm Johann Brandstätter, der in Berichten als kränklich beschrieben wird und wenig am Institut veränderte und die Leitung bis 1888 innehatte.[2]

Erste „Taubstummenanstalt“

Das ehemalige „Siechenhäusel“ wird zur „Taubstummenanstalt“  (https://michaelreitter.eduhi.at/)

Partizipatorischer Ansatz in historischer Forschung

Um die Kategorie Behinderung entsprechend behandeln zu können, und dem Problem der fehlenden Quellen aus der Perspektive der Betroffenen entgegenzuwirken, sollen hier umfassende Vorüberlegungen und Reflexionen darüber angestellt werden, wie eine partizipative Geschichtsforschung aussehen kann und welche Faktoren es im Vorfeld, in der Durchführung zu bedenken gilt.[3]

Primäre Intention des Projekts ist es, Betroffene in die historische Forschung miteinzubeziehen und keine Geschichte über das Phänomen der Behinderung zu schreiben, sondern eine reale Einbindung in die Diskursgeschichte zu schaffen. Mit der Einbindung des OÖ Gehörlosenverbandes, soll verstärkt dessen Perspektive in die historische Forschung zu Gehörlosen eingebracht werden. Es ist für die Teilnahme am Workshop nicht erforderlich, dass die Teilnehmer:innen in der historischen Arbeit geschult, sind, oder umfassendes Vorwissen zum Gegenstand mitbringen, es geht vor allem um ihre persönlichen Erfahrungswelten, die sie mit den vergangenen Ereignissen in Beziehung setzen. Die Leitfrage in der gemeinsamen Arbeit an den Quellen ist: Welche Ähnlichkeiten/Unterschiede kann ich im Vergleich zu meinem Leben feststellen?

Die Teilnahme am Forschungsdiskurs von Betroffen bringt auch die Forschung der angestrebten Dissertation auf ein qualitativ hochwertigeres Niveau und kann in weiterer Folge einer politischen Diskussion als Grundlage dienen, die sich auch in der Gegenwart für Inklusion stark macht. Zunächst ist die Frage zu klären, wann im Rahmen einer historischen Forschung der geeignete Zeitpunkt ist, um Mitforschende einzubeziehen. Unter Mitforschenden wird in diesem Zusammenhang eine Personengruppe verstanden, die von Gehörlosigkeit betroffen ist und durch diese Betroffenheit differenzierte Interpretationsansätze für die historischen Quellen liefern kann. Dies muss erst nach Sichtung und erster Verortung der Quellen sinnvoll sein.[4]

Das Ziel des Teilprojektes der Dissertation ist es, dass der Kreis der Interpretatoren einer historischen Quelle erweitert wird und sogenanntes Systemwissen generiert wird. Durch dieses Systemwissen rund um die Interpretation, soll die Entwicklung und der lebensweltliche Bezug eines historischen Problems gezeigt werden. Dadurch wird eine Systemdarstellung angestrebt, die der Perspektive der Betroffenen einen Part in der Geschichtsschreibung zugesteht.[5]

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Mundstab

Behindert werden – beteiligt werden

Waltraud Ernst (Institut für Frauen- und Geschlechterforschung, Johannes Kepler Universität Linz) über ihren Beitrag präsentiert in der DiStA-Forschungswerkstatt:

Menschen werden in unserer Gesellschaft unter vielerlei Umständen vielfach behindert. Kann die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an interdisziplinären Erkenntnisprozessen zu selbstbestimmterer Lebensgestaltung und gesellschaftlicher Teilhabe beitragen?

Prozesse der Diskriminierung zu erforschen, anstatt persönliche Merkmale in den Blickpunkt zu rücken, fordern aktuelle Ansätze der Disability Studies. Queer-feministische und intersektionale Perspektiven erforschen Behinderungen als soziale Praktiken und sozial legitimierte Prozesse (Ernst 2021). Schon in den 1980er-Jahren entstand ein kollaboratives Buch von behinderten Frauen. Darin wird das Ineinanderwirken von Behinderung und Geschlecht untersucht. Ein bis heute innovativer Forschungsansatz des „Forschens mit“ bzw. ein im heutigen Sinne autoethnografischer Ansatz des Selbstbeforschens und des Selbstschreibens wird hier einem Ansatz des „Forschens über“ vorgezogen (Boll et al. 1988). Seit den 1980er-Jahren konnten sich die Disability Studies auch im deutschsprachigen Raum als universitäre Disziplin etablieren. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht konnten weiter erforscht werden (DiStA – Disability Studies Austria 2018). Sowohl Geschlecht als auch Behinderung werden hier als gesellschaftliche Konstrukte verstanden, die im Alltag, im Austausch mit anderen Menschen und Institutionen ständig hergestellt, gefestigt oder transformiert werden (Jacob et al. 2010).

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Partizipativ forschen mit Müttern und Vätern mit Lernschwierigkeiten von Rahel More

An der Universität Klagenfurt forscht Rahel More im Rahmen ihres Disserationsprojektes zu Eltern mit Lernschwierigkeiten und die Bedeutung elterlicher Kompetenzen.

In der gerade erschienen ÖJS – Österreichisches Jahrbuch für Soziale Arbeit (2021) schreibt sie über ihre Erfahrungen im partizipativen Forschen gemeinsam mit Personen mit sogenannten Lernschwierigkeiten. Diese sind noch immer weitgehend von akademischer Forschung exkludiert und laufen auch Gefahr durch Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit objektiviert zu werden.

Dieser lesenswerte Artikel bzw. die ÖJS ist open access hier downloadbar: https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogiksoziale_arbeit/zeitschriften/oesterreichisches_jahrbuch_fuer_soziale_arbeit.html

Zum Inhalt des Artikels: Rahel More forschte gemeinsam mit Mütter und Väter mit Lernschwierigkeiten, im Mittelpunkt standen die Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe (KJH). In ihrem Beitrag beschreibt sie die Potentiale und Herausforderungen partizipativ orientierter Forschung mit Eltern mit Lernschwierigkeiten. Im Rahmen ihres Dissertationsforschungsprojektes  hatte sie eine Kooperation mit einer Referenzgruppe aufgebaut, die aus Eltern mit Lernschwierigkeiten bestand und die als Ko-Forscher-innen wirkten. Die Partizipation der Zielgruppe hatte zum einen emanzipatorisches Potential für die Ko-Forschenden, zum anderen erwies sich das spezifische Vorwissen
der Referenzgruppe als gewinnbringend für die Forschung. Sie erläutert hilfreich für weitere Studien in ähnlichem Setting, das partizipativ orientierte Forschung nicht von Machtasymmetrien befreit ist und es daher stetiger Reflexion aller Beteiligten und Transparenz betreffend unterschiedliche Rollen im Forschungsprozess bedarf.