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Öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote!

Sind behinderte Menschen eigentlich ein Teil der Bevölkerung? Oder sind wir Sonderfälle, die manchmal innerhalb, manchmal außerhalb der Gesellschaft leben sollen?

Von Kassandra Ruhm

Bei der DiStA-Forschungswerkstatt am 5. Mai 2023 haben wir – neben mehreren anderen spannenden Themen – wieder einmal darüber diskutiert, wie man an verschiedenen Stellen Barrieren aushebeln könnte und wo es Fördermöglichkeiten für die Inklusion einzelner behinderter Menschen gäbe. Ich habe mich schon so viele hundert Stunden gegen Diskriminierung behinderter Menschen und für gesellschaftliche Gerechtigkeit eingesetzt und werde das auch weiter tun – aber ist das wirklich die Aufgabe behinderter Betroffener und nicht die Aufgabe der politischen Entscheidungsgremien und der ausführenden Organe? Es sollte staatlich finanzierte Stellen geben, die unsere Fachkenntnisse einbeziehen und für den Abbau von Barrieren und Benachteiligungen sorgen, statt behinderten Menschen unbezahlt den größten Teil der Arbeit zuzuschieben.

Zumindest eine staatliche Verpflichtung

Der Staat reagiert bei den allgegenwärtigen Rechtsbrüchen zum Nachteil behinderter Menschen oft viel zu wenig. Während wir selbst wenig Sanktionsmöglichkeiten haben, sondern wie Sisyphos immer wieder Steine hoch rollen gegen Organisationen, die einfach keine Lust haben, ihre Barrieren und Benachteiligungen zu beseitigen. Ich finde, das darf nicht so weiter gehen.

In Deutschland z.B. gibt es keine Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, obwohl die Behindertenrechtskonvention etwas anderes vorgibt. Das ist ein großes Problem. Aber bei allen Institutionen, die mit öffentlichen Geldern gefördert werden, hat die öffentliche Hand eine sehr gute Handhabe, Barrierefreiheit einzufordern. Wenn sie das will. Mit einer handfesten rechtlichen Grundlage: Der Gesetzgeber hat im deutschen Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) unter § 1, Abs. 3 festgelegt:

„Gewähren Träger öffentlicher Gewalt Zuwendungen nach § 23 der Bundeshaushaltsordnung als institutionelle Förderungen, so sollen sie durch Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder vertragliche Vereinbarung sicherstellen, dass die institutionellen Zuwendungsempfängerinnen und -empfänger die Grundzüge dieses Gesetzes anwenden. Aus der Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder der vertraglichen Vereinbarung muss hervorgehen, welche Vorschriften anzuwenden sind.“

Inhalt der Gesetze in Deutschland und Österreich

Barrierefreiheit und der Abbau von Benachteiligungen gehören zu den wichtigen Grundzügen des Behindertengleichstellungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wäre es ein Leichtes, immer wenn jemand öffentliche Gelder beantragt, diese Gelder mit der Auflage zu versehen, dass das jeweilige Angebot barrierefrei nutzbar ist. Ausnahmen und Einschränkungen der Barrierefreiheit könnten individuell beantragt und geprüft werden. Anders herum, als es heute ist: Bisher müssen behinderte Menschen noch zu oft individuell ihre Teilhabe beantragen und mühsam erkämpfen.

Ich gehe davon aus, dass eine ganze Reihe von deutschen Bundesländern die Vorgaben des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes in den Landes-Behindertengleichstellungsgesetzen umgesetzt haben. Und wenn sie es noch nicht in einem aktuellen Landesgleichstellungsgesetz schriftlich fixiert haben, gibt es andere Möglichkeiten, die Forderung zu begründen, dass öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote verwendet werden dürfen. Zum Beispiel wegen eines Diskriminierungsverbotes, wegen der Gleichheit aller Menschen oder wegen anderer Vorgaben der jeweiligen Landesgesetze.

In Österreich gibt es eine ähnliche gesetzliche Vorgabe im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz konkret in § 2, Abs. 1 (Geltungsbereich) in Verbindung mit § 8 (Verpflichtung des Bundes). (Danke an Martin Ladstätter für die Information!)

Ein Beispiel wie es nicht sein darf

Nein, es geht nicht darum, dass fast alle Häuser geschlossen werden müssten, weil wir behinderten Menschen so unglaublich große Forderungen stellen würden. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Bremer „Zentrum für queeres Leben“ befindet sich die Toilette im Keller. Man müsste erst einige Stufen hoch und danach eine lange und enge Treppe heruntersteigen, um sie zu erreichen. Ich habe nie gefordert, dass in dem engen, alten Haus ein Fahrstuhl zur Toilette eingebaut würde. Ich hatte den Eindruck, das wäre nicht mit einem tragbaren Aufwand realisierbar. Aber einen würdevolleren und sichereren Eingang in den unteren Hausbereich hätte ich durchaus gewünscht. Mittlerweile habe ich aufgegeben.

Und dann geht es doch!

Der Eingang in den Veranstaltungsraum des schwul-lesbisch-queeren Zentrums (KCR) in Dortmund, in der Nähe meiner alten Heimat im Ruhrgebiet, hatte früher 1 ½ Stufen. Ab 1993 habe ich mich mit meinem ersten eigenen Rollstuhl immer wieder diese Stufen hoch gequält, um dabei sein zu können. Natürlich habe ich mehrfach für eine Rampe argumentiert. Ohne Erfolg. Einige Zeit später hat das Studierendenparlament der Uni Dortmund entschieden, nur barrierefreie Veranstaltungen finanziell zu unterstützen. Eine dieser Veranstaltungen sollte im KCR stattfinden – und was sag‘ ich Euch? Innerhalb kürzester Zeit haben die Vereinsmitglieder eine Rampe gebaut und die Veranstaltung hat wie geplant dort stattgefunden. Zu mir hat damals jemand gesagt: „Ach, eine Rampe wollten wir doch schon lange haben.“ Aber ich und die anderen Rollstuhlfahrer-innen vor Ort haben nicht als Grund ausgereicht, um diesen Wunsch umzusetzen. Mehrere Jahre nicht. Mit der Bindung der Zuwendung der Uni Dortmund an die Barrierefreiheit hatten wir die Rampe innerhalb weniger Wochen. So wünsche ich es mir auch mit allen anderen Geldern unserer Gemeinschaft, unseres Staates.

Gleiches Recht auf gleiche Teilhabe

Wir behinderten Menschen sind ein Teil der allgemeinen Bevölkerung. Wir sind keine Einzelfälle, keine überraschende Ausnahme, mit der niemand rechnen konnte. Wir sind keine andere Kategorie von Lebewesen und keine Menschen 2. Klasse. Wir haben die gleichen Bürgerrechte, wie die anderen auch. Wenn unser Staat das Gemeinschaftsgeld verwendet, um öffentliche Angebote zu unterstützen, dann müssen diese Angebote tatsächlich öffentlich sein, also allen Mitgliedern der Gemeinschaft offenstehen. So wie es § 1, Abs. 3, des Behindertengleichstellungsgesetzes vorsieht. Sonst sind die öffentlichen Gelder dort falsch eingesetzt. Denn wir behinderten Menschen gehören zur Gesellschaft dazu.

Kassandra Ruhm mit Rollstuhl am Gehsteig und schaut zurück

Kassandra Ruhm referierte bei der 2. DiStA Forschungswerkstatt 2023. Sie lebt in Bremen, Deutschland. Kassandra Ruhm arbeitet als Psychologin und setzt sich in ihrer Freizeit mit Kunst, Artikeln und Veranstaltungen für den Abbau von Vorurteilen und eine gerechtere Gesellschaft ein. Mehr Infos: www.Kassandra-Ruhm.de

Zuerst veröffentlicht als Kolumne bei DIE NEUE NORM: Ruhm, Kassandra (2023): Öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote! Erschienen am 16. Mai 2023 online in: Die Neue Norm – das Magazin für Disability Mainstreaming. https://dieneuenorm.de/kolumne/oeffentliche-angebote/

 

 

Bericht über die 2. Online Dis/Ability-Forschungswerkstatt

Am 5. Mai 2023 fand zum zweiten Mal die Österreichische Online Inter- und Transdisziplinäre Dis/Ability-Forschungswerkstatt statt. Ziel der Veranstaltung war vor allem die Vernetzung und die Verbreitung der vielfältigen Projekte im Bereich der emanzipatorischen Behinderungsforschung in Österreich. Heuer stand die Forschungswerkstatt im Zeichen des 15-jährigen Jubiläums des Inkrafttretens des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Dies geschah am 3. Mai 2008 nachdem, wie in der Konvention festgelegt, diese von 20 Staaten ratifiziert worden war. Fast 75 Personen nahmen an der Veranstaltung teil, verfolgten die Beiträge der Vortragenden aus einer Vielzahl von Disziplinen und brachten sich in rege Diskussionen ein. Alle Beiträge wurden simultan in Schrift und ÖGS übersetzt.

Den ersten Slot zum Thema Hochschule moderierte Matthias Forstner. Zuerst referierte Michaela Joch (WU Wien) in ihrem Beitrag über Inklusions- und Exklusionsmechanismen in der akademischen Wissenschaft aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen, die wissenschaftlich tätig sind. Theresa M. Straub (Uni Innsbruck) legte sodann ihren Fokus auf Studierende mit Behinderungen und ihre Sichtweisen, wie die Aufnahme zum Studium sowie dessen und Abschluss gelingen. Ein Fokus lag dabei auf den diesbezüglichen Barrieren im System Universität.

Slot 2 zu (Geschlechter-)Vielfalt moderierte Rahel More. Julia Seuschez (Uni Klagenfurt) präsentiere die Ergebnisse ihrer Forschung zu Intersexualität und Geschlechtsidentität im Kontext des Ullrich-Turner-Syndroms und verband diese mit dem Konzept des Otherings. Im darauffolgenden Beitrag wies Kassandra Ruhm (Uni Bremen) darauf hin, dass für Menschen mit Behinderungen ungleiche Chancen für die Nutzung von Psychotherapie und psychosozialer Beratung bestehen. Um mehr Anbieter:innen von Beratungsarbeit dazu zu ermutigen, auch mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, erarbeitete sie eine Broschüre, die aufzeigt, wie in solchen SituationenVielfalt und Intersektionalität erreicht werden kann und welche Faktoren diesbezüglich zu beachten sind.

Nach der Mittagspause moderierte Andreas Jeitler Slot 3 zu Partizipation. Lisa Maria Hofer (Uni Linz) stellte erste Ergebnisse ihres Disability History Forschungsprojekt mit einem partizipativen Zugang vor. Im Fokus ihrer Forschung steht die Geschichte des Linzer ‚Taubstummeninstituts‘ von 1818-1919. Nikolaus Hauer und Helga Fasching (Uni Wien) präsentierten ein von ihnen erfolgreich umgesetztes Projekt, als Beispiel, wie universitäre Lehre partizipativ gestaltet werden kann. Dabei berichteten sie auch von den verwendeten Methoden.

Am Ende der Veranstaltung moderierte Angela Wegscheider eine offene Diskussion zu Partizipation an und in der Wissenschaft. Anleitend für die Diskussion war das DiStA Positionspapier zu Disability Studies in Österreich. Während sich schon nach den einzelnen Beiträgen sehr interessante und kurzweilige Interaktionen ereigneten kam es auch nun zu einer regen Beteiligung der Anwesenden, die trotz allerschönstem Frühlingswetter noch immer zahlreich anwesend waren.

Wir danken allen Teilnehmenden und Vortragenden für die gemeinsame Veranstaltung und planen für das Sommersemester 2024 eine Wiederholung.

Das Organisationsteam,

Matthias Forstner, Andreas Jeitler, Rahel More und Angela Wegscheider

 

Portrait von Siegfried Braun im Newsletter Behindertenpolitik (12/2022)

Im Newsletter Behindertenpolitik erschien ein Text über das Leben von Siegfried Braun und zusätzlich ein Portrait von ihn. Damit wurde erstmals ein Foto von dem Aktivisten und Mitbegründer der Ersten Österreichischen Krüppelarbeitsgemeinschaft veröffentlicht.
 
Das Foto ist Teil eines Antrages zur Vereinsgründung aus dem Jahr 1933, den Siegfied Braun bei den tschechischen Behörden einreichte. Siegfried Braun und seine Mitstreiter hatten das Ziel, einen Verein für Menschen mit Körperbehinderungen in der Tschechischen Republik zu gründen, der Emanzipation von und Rechte für Menschen mit Behinderungen fördern sollte. Volker Schönwiese und Angela Wegscheider haben diese Unterlagen im tschechischen Staatsarchiv entdeckt.
 
Siegfried Braun Newsletter Behindertenpolitik 12_22

Siegfried Braun Newsletter Behindertenpolitik 12_22

Seit 2000 erscheint das BIOSKOP mit dem Newsletter Behindertenpolitik. Die Zeitschrift BIOSKOP des gleichnamigen Forums zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien hat ihren Sitz in Deutschland. Das Forum beobachtet, analysiert, kommentiert die gesellschaftspolitischen Szenarien der »Life-Sciences«-Propagandist*innen in Politik, Industrie und Hochschulen. Ihre Analysen sind auch für den österreichischen Kontext relevant, sowie unabhängig und kritisch.
 
Länger zurückliegenden Hefte sind online abrufbar:
 
Die Zeitschrift kann auf der Webseite abonniert und somit die Arbeit des Forums und die Produktion der Zeitschrift unterstützt werden.

Fast kein Thema: Personalmangel in der persönlichen Assistenz

Nur wenige Medienberichte fassen sich mit dem aktuen Personalmangel in der persönlichen Assistenz und ihren Folgen für die Betroffenen. Denn keine Assistent-innnen zu haben kann für viele Menschen mit Behinderungen lebensgefährlich sein. Die FURCHE greift das Thema den Arbeitskräftemangel in der persönlichen Assistenz endlich mal wieder auf.

In Österreich leben rund 2.000 Menschen selbstständig mit persönlicher Assistenz. Ihr Assistenzbedarf basiert dem ärztlich eingeschätzten Pflegebedarf. Damit erhalten sie eine monatliche Förderung, mit der sie ihre Assistent-innen zahlen können. Auswählen zu dürfen, welche Assistent-innen zu einem passen und welche nicht, ist durch die Intimität des Jobs essenziell, erklärt Matthias Forstner. Der Soziologe forscht an der Johannes Kepler Universität Linz zu Disability Studies  und arbeitet selbst mit persönlicher Assistenz arbeitet. Mehr dazu hier: Tödlicher Personalmangel: Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung | Die FURCHE

Dieser Text erschien unter dem Titel „Für ein Leben in Würde“ in der Printausgabe der FURCHE Nr. 5/2023 und online Tödlicher Personalmangel: Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung | Die FURCHE

 

Wo Licht, da auch Schatten

Warum die ORF Hilfskampagne „Licht ins Dunkel“ in der Kritik steht

Bundespräsident Alexander Van der Bellen nimmt am 24.12.2022 telefonisch Spenden entgegen (oder tut so als ob für die Kamera). (Quelle: Licht ins Dunkel)

Der Beitrag wurde verfasst von Andrea Lehner, Studentin im Bachelorstudium Sozialwirtschaft, im Rahmen der LVA Österreichische Politik, Schwerpunkt Gleichstellungspolitik.

Am 24. Dezember 2022 fand im ORF zum 45. Mal die traditionelle „Licht ins Dunkel“-Weihnachtssendung statt. In der ORF-Spendengala wird um Spenden für Sozialhilfe- und Behindertenprojekte in Österreich gebeten. Diese werden medienwirksam von Politiker:innen und Prominenten am Telefon entgegengenommen. Bereits im Vorfeld wurde – wie alle Jahr wieder – Kritik an der Veranstaltung geäußert. Menschen mit Behinderungen fordern sogar die Abschaffung von „Licht ins Dunkel“. Angesichts der hohen Spendensumme mag dies für viele Menschen nicht nachvollziehbar sein. Was sind die Hintergründe?

Das Spendenproblem

Am 28. November 2022 veröffentlichte die Plattform „andererseits“ eine Dokumentation mit dem Titel „Das Spenden-problem“. Die Dokumentation setzt sich medienwirksam mit mehreren kritisch zu betrachtenden Aspekten von „Licht ins Dunkel“ auseinander. Unter anderem die Darstellung der Menschen, warum Spenden überhaupt nötig sind und wer von der Sendung sonst noch profitiert.

Tränen, Rührung und Bewunderung

Die jährliche Spendengala am 24. Dezember ist für viele Menschen eine Weihnachtstradition. Im Jahr 2022 wurden bis inkl. 24.12. insgesamt 19.137.673 Euro durch Personen und Unternehmen an die Organisation gespendet. Dies macht „Licht ins Dunkel“ zu der finanziell erfolgreichsten Hilfskampagne Österreichs. Aufgrund der hohen Einschaltquoten prägt die Sendung seit Jahrzehnten das gesellschaftliche Bild von Menschen mit Behinderungen. Insbesondere Darstellungsweise wird von Betroffenen und Expert:innen bereits jahrelang kritisiert.

„Behinderung bekommt durch diese unsägliche Kampagne ein weinerliches, höchst negatives Image, von dem jede/r Abstand halten will. Behinderte Menschen werden nicht als gesellschaftliche Wesen mit Rechten dargestellt sondern als außerhalb der Gemeinschaft stehende hilfeempfangende, voller Dankbarkeit Existierende.“ (Stix, 2011)

Die Sendung arbeitet mit Emotionen, um möglichst hohe Summen zu erzielen und stellt dadurch Menschen mit Behinderungen als Opfer und hilfsbedürftig dar. Prominente und Politiker:innen drücken ihre Bewunderung und Mitleid aus. Emotionale musikalische Untermalung und Tränen gehören zur Show. Diese Form der Darstellung von Menschen mit Behinderungen widerspricht einer würdevollen Berichterstattung. (Pernegger, 2016, S. 82)

Ursula Naue, Expertin im Bereich Disability Studies, sieht als Hauptproblem, dass Behinderung als etwas Schlechtes dargestellt wird. Der Fokus liegt auf den Defiziten der Menschen, darauf was nicht funktioniert. Wie die Gesellschaft diese Menschen behindert, wird nicht behandelt. Um eine inklusive Gesellschaft zu erreichen, sollte der Fokus auf Hindernisse und Barrieren, welche Menschen mit Behinderungen aus dem alltäglichen Leben ausschließen, liegen. (andererseits, 2022)

Bringen wir Licht ins Dunkel

Die scheinheilige Welt von Licht ins Dunkel benötigt eine radikale Wendung. Menschenrechte dürfen nicht von Spenden abhängen und Menschen mit Behinderungen sitzen nicht im Dunkeln! Menschen mit Behinderungen sollten als selbstbestimmte Individuen dargestellt werden, die in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu führen und Entscheidungen zu treffen. In das Zentrum der Aufmerksamkeit sollten Hindernisse und Barrieren in der Gesellschaft rücken. Der Nationale Aktionsplan Behinderung 2022-2030 sieht eine Neukonzipierung der ORF-Spendenaktion „Licht ins Dunkel“ vor. (Bundesministerium, 2022) Es wäre empfehlenswert auf die Kritik zu reagieren und Menschen mit Behinderung in den Prozess miteinzubinden.

Die Dokumentation von andererseits online unter: www.andererseits.org Die Studie „Mediale Darstellung von Menschen mit Behinderung“ online unter: www.rtr.at

Andrea Lehner lebt und arbeitet in Linz und studiert Sozialwirtschaft an der Johannes Kepler Universität Linz.

Andrea Lehner, Autorin

Quellenangaben:

andererseits. (2022). Das Spenden-Problem. Warum Menschen mit Behinderungen die Abschaffung von Licht ins Dunkel fordern. https://andererseits.org/spendenproblem/

Bundesministerium, S., Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz. (2022). Nationaler Aktionsplan Behinderung 2022–2030.

Licht ins Dunkel. (o. J.-a). LICHT INS DUNKEL. Abgerufen 8. Januar 2023, von https://lichtinsdunkel.orf.at/index.html  

Licht ins Dunkel. (o. J.-b). LICHT INS DUNKEL – der Verein. Abgerufen 8. Januar 2023, von https://lichtinsdunkel.orf.at/verein102.html

Licht ins Dunkel (o. J.-c). LICHT INS DUNKEL – Projektförderungen 2021/2022. Abgerufen 8. Januar 2023, von https://lichtinsdunkel.orf.at/projektfoerderung102.pdf

Pernegger, M. (2016). Menschen mit Behinderung in österreichischen Massenmedien. Jahresstudie 2015/16. MediaAffairs.

Stix, T. (2011). Was mich behindert: Licht ins Dunkel – behindertenarbeit.at. https://www.behindertenarbeit.at/8957/was-mich-behindert-licht-ins-dunkel/

Zu Menschen mit Behinderungen in Österreich und deren Arbeitsmarktzugang

Dieser Beitrag wurde von Marcel Wolf, Student im Bachelorstudium Sozialwirtschaft, im Rahmen der LVA Österreichische Politik, Schwerpunkt Gleichstellungspolitik erstellt.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) stellt einen wichtigen Meilenstein dar; Diskriminierung soll bekämpft, und Gleichberechtigung gefördert werden. Ein wesentlicher Akzent wird auf Inklusion statt einfacher Integration gesetzt; niemand darf aus einem Lebensbereich exkludiert werden. In Bezug auf Beschäftigung bedeutet das, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt arbeiten dürfen. (vgl. Essl, 2021, S. 79f) Dennoch sind Menschen mit Behinderungen nicht nur öfter, sondern auch länger arbeitslos als Menschen ohne Behinderung. (vgl. Bruckner, 2019, S. 176)

Zahlen zu Behinderung in Österreich und weltweit

Laut WHO lebten 2019 rund 15 Prozent der Weltbevölkerung mit einer Behinderung. Das entspricht mehr als einer Milliarde Menschen. Einer Erhebung der Statistik Austria zufolge waren es 2015 18,4 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung, die mit einer dauerhaften Behinderung lebten; hochgerechnet 1,3 Millionen Menschen. Wenn man das Bevölkerungswachstum berücksichtigt, waren es 2021 schon 1,7 Millionen. (vgl. Essl, 2021, S. 81) Auch deshalb ist das Thema besonders aktuell.

Herausforderungen

Eines der Ziele der UN-BRK ist es, die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Konkret heißt das, dass ein Mindestmaß an Sonderarbeitswelten, ein inklusiver Arbeitsmarkt und eine dem Bedarf entsprechende Vergütung angestrebt werden soll. Die gegenwärtige Situation ist jedoch eine andere. Menschen mit Behinderungen, die keine Erwerbsarbeit bekommen, sehen sich mit Ersatzarbeitsmärkten und minderwertigen Sonderbeschäftigungsverhältnissen konfrontiert. (vgl. Wegscheider / Schaur, 2019, S. 47)

Trotz fehlender Daten lässt sich anhand eines 2018 veröffentlichen Reports weltweit eine deutliche Benachteiligung für Menschen mit Behinderungen feststellen. Menschen mit Behinderungen im Alter von 15 und aufwärts sind im Vergleich zu jenen ohne Behinderung halb so oft beschäftigt. Weiters ist die Entlohnung von Menschen mit Behinderungen meistens auch geringer. (vgl. Essl, 2021, S. 83)

Nach dem Behinderteneinstellungsgesetz sind in Österreich Unternehmen mit mehr als 24 Mitarbeiter-innen dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen anzustellen. Diese Verpflichtung wird jedoch nur von 22 Prozent dieser Unternehmen erfüllt. Weiters werden Menschen mit Behinderungen, die viel Unterstützung brauchen, nach der Schule oft als arbeitsunfähig erklärt. Das Einzige, was ihnen dadurch noch offensteht, ist die Tagesstruktur. Dort waren 2019 23.000 Menschen mit Behinderungen tätig. Sie erhalten nur ein Taschengeld und haben keinen Anspruch auf eigene Kranken- oder Pensionsversicherung. Für sie gelten auch die gesetzlichen Arbeitnehmer-innenrechte nicht. (vgl. Bruckner, 2019, S. 176)

Nationaler Aktionsplan für Behinderung 2022-2030

Einer Presseaussendung des Behindertenrates zufolge bedeutet der Nationale Aktionsplan (NAP) für Behinderung 2022-2030 eine Verschlechterung der Situation. Trotz positiver Herangehensweisen werden manche wichtigen Gebiete im NAP nicht oder nicht genügend berücksichtigt. Auch im Bereich der Beschäftigung ist das der Fall. Außerdem ist das Budget nicht ausreichend. (Behindertenrat, 2022)

Call for Action

Der österreichische Behindertenrat legte 2019 schon eine Reihe an Empfehlungen für einen inklusiven Arbeitsmarkt vor, unter anderem:

  • Die Bereitstellung von Maßnahmen der Unterstützten Beschäftigung, sowie etwa persönliche Assistenz am Arbeitsplatz
  • Die Ausrichtung aller Unterstützungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderung auf die Chance an Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt
  • Die Gewährleistung von allenfalls notwendigen Lohnkostenzuschüssen an Unternehmen von der öffentlichen Hand
  • Eine zügige Krisenintervention bei Entstehung von Krisen im Unternehmen, die eine Bedrohung der Beschäftigungsverhältnisse darstellt
  • Die Bereitstellung und Finanzierung von Sozialökonomischen Betrieben, Beschäftigungsgesellschaften und des Ausbaus der integrativen Betriebe durch die Aktive Arbeitsmarktpolitik des AMS

Auch in Bezug auf Rehabilitation und Wiedereinstieg in den Beruf bietet der Behindertenrat eine Liste von Vorschlägen. (Behindertenrat, 2019) Die Lage scheint sich jedoch durch den NAP 2022-2030 eher verschlechtert zu haben, bevor sie sich hoffentlich zum Besseren wendet. Insbesondere nach dem NAP 2022-2030 scheint die Umsetzung der UN-BRK noch einen weiten Weg vor sich zu haben. Trotz der Dringlichkeit, mit der dieses hoch relevante Thema gehandhabt werden sollte, ist also hier eher von einem Rückschlag zu sprechen. In Österreich sind Menschen mit Behinderungen nur halb so oft beschäftigt wie Menschen ohne Behinderungen. Ersatzarbeitsmärkte sind immer noch geläufig. Es sei hier auf die Vorschläge des Behindertenrates verwiesen, die leider bisher auf taube Ohren stießen.

Marcel Wolf ist Student im Bachelorstudium Sozialwirtschaft.

Marcel Wolf, Autor

Literaturverzeichnis:

Behindertenrat (2019): Strategische Vorschläge für einen inklusiven Arbeitsmarkt. Umsetzungsvorschläge zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt in Österreich. https://www.behindertenrat.at/wp-content/uploads/2019/07/strategische-Vorschl%C3%A4ge_2019.pdf (aufgerufen am 11/01/2023)

Behindertenrat (2022): Nationaler Aktionsplan Behinderung: Nicht mehr als Lippenbekenntnisse. https://www.behindertenrat.at/2022/07/nationaler-aktionsplan-behinderung-nicht-mehr-als-lippenbekenntnisse/ (aufgerufen am 11/01/2023)

Bruckner, B. (2019): Umsetzung der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) in Österreich, in: Biewer, G. / Proyer, M. (Hrsg): Behinderung und Gesellschaft. Ein universitärer Beitrag zum Gedenkjahr 2018, Wien: Institut für Bildungswissenschaft, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, University of Vienna, S. 163-179

Essl, M. (2021): Warum Menschen mit Behinderung für Unternehmen eine echte Bereicherung sind, in: Sihn-Weber, A. (Hrsg): CSR und Inklusion. Bessere Unternehmensperformance durch gelebte Teilhabe und Wirksamkeit, Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, S. 79-95

Wegscheider, A. / Schaur, M. (2019): Arbeit und Beschäftigung von arbeitsmarktfernen Menschen mit Behinderungen in Oberösterreich, SWS-Rundschau, 59 (1), S. 46-65

Einladung

2. Österreichische Online Inter- und Transdisziplinäre Dis/Ability-Forschungswerkstatt

Wann: Freitag, 5. Mai 2023, 10:00 bis ca. 15:00 Uhr

Ort: Online (Link wird noch bekannt gegeben)

Anmeldung: Die Anmeldung über das Online-Anmeldeformular ist leider nicht mehr möglich.

Zum zweiten Mal möchten wir Studierenden und Wissenschaftler-innen, die im Sinne der Disability Studies forschen, die Möglichkeit geben, sich über kritische und emanzipatorische Forschung und Lehre zu Behinderung(en) auszutauschen und zu vernetzen. Wir von Disability Studies Austria (DiStA) haben dazu ein Positionspapier auf der DiStA-Internetseite veröffentlicht.

Heuer steht die Online Forschungswerkstatt im Zeichen des 15-jährigen Jubiläums des Inkrafttretens des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Dies geschah am 03. Mai 2008 nachdem, wie in der Konvention festgelegt, diese von 20 Staaten ratifiziert worden war. Eingereichte Beiträge sollen menschenrechtliche Bezüge aufweisen und/oder sich dem breiten Thema der Barrierefreiheit gemäß der UN-BRK widmen. Möglich sind dabei u.a. Fragen sozialer, institutioneller, finanzieller oder kommunikativer Barrierefreiheit.

Ziel ist es, das breite Forschungsspektrum und vielfältigen Fragestellungen, Methoden und Perspektiven zu Disability Studies, Behindertenpolitik, Dis/Ableismus, Anti/Diskriminierung, Barrierefreiheit, Intersektionalität und Diversität in Österreich weiter sichtbar zu machen.

Wir bieten dazu eine niederschwellige Veranstaltung mit Workshop-Charakter an: in 10-minütigen Slots werden laufende Forschungs- oder Kunstprojekte, Anliegen aus der Lehre oder ein Diskussionsthema vorgestellt und diskutiert.

Bitte melden Sie sich über das Online-Formular bis spätestens Freitag, den 17. März 2023 an, und geben Sie bekannt, ob Sie

  1. aktiv mit einem eigenen Beitrag teilnehmen wollen. Senden Sie uns dazu Ihren Titelvorschlag und eine halbe Seite Beschreibung Ihres Beitrages. Der Beitrag soll einen klaren Bezug zum DiStA-Positionspapier sowie zur UN-BRK und/oder zum Thema der Barrierefreiheit aufweisen. Eine Rückmeldung an aktiv gemeldeten Teilnehmer-innen erfolgt Anfang April 2023.
  2. ohne eigenen Beitrag als Zuhörer-in teilnehmen wollen.
  3. Bedarfe bzgl. der Barrierefreiheit der Veranstaltung (z.B. ÖGS-Dolmetsch) haben.

Programm: Das finale Programm finden Sie auf der Programm-Seite.

Die 2. inter- und transdisziplinäre Dis/Ability-Forschungswerkstatt wird von Disability Studies Austria (DiStA) in Kooperation mit uniability und den Universitäten Linz und Klagenfurt organisiert.

Fragen? Bitte an: Matthias Forstner (DiStA und Johannes Kepler Universität Linz), email: matthias.forstner@jku.at oder Andreas Jeitler (DiStA, Verein uniability und Universität Klagenfurt), email: andreas.jeitler@aau.at.

Das Organisationsteam Matthias Forstner, Andreas Jeitler, Rahel More und Angela Wegscheider

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Moderationsduo von andererseits

Der andere Blick auf „Licht ins Dunkel“

Bild http://andererseits.org/spenden-problem/

„Licht ins Dunkel“ dominiert in der vorweihnachtlichen Zeit, Betroffene kritisieren die Spendenaktion seit Jahren. Nun gibt es endlich die andere Sichtweise auf das „charity „business“.  Das inklusive Onlinemagazin „andererseits“ veröffentlichte eine kritische Dokumentation zur ORF-Spendenaktion.

Das Moderationsduo geht unter Einbeziehung von Aktivist-innen, Expert-innen und Archivmaterial der Frage nach: Wem nützt das Spenden wirklich etwas und warum kritisieren Betroffene seit Jahrzehnten das Spendenformat? „Das Spenden-Problem. Warum Menschen mit Behinderungen die Abschaffung von Licht ins Dunkel fordern“ (29:56 min)

Wir empfehlen hierzu: Paul Longmore Telethons: Spectacle, Disability, and the Business of Charity New York: Oxford University Press, 2016. 

Der US-Historiker und Aktivist Paul Longmore starb 2010. Er hinterlies ein Manuskript über die Wohltätigkeits-Telethons im US-amerikanischen Fernsehen, welches Kolleg-innen aus den Disability Studies vervollständigten und publizierten. Longmore zeigt, dass Telethons viel komplexere Aktivitäten waren, als man bei flüchtiger Betrachtung vermuten würde. Telethons waren einer der Schauplätze, die viele nichtbehinderte Amerikaner und einige behinderte Amerikaner ermöglichten, behinderte Menschen auf oberflächliche Weise darzustellen und sie als Karikaturen ihres Behindertenstatus zu reduzieren. Longmores kritischer Fokus ist nicht nur auf diese Spenden-Fernsehprogramme gerichtet. Er kritisiert die ganze Welt, die hier involviert ist, das gesamte soziale Universum, das Telethons als Phänomen hervorgebracht hat. Aus der Rezension: https://dsq-sds.org/article/view/5388/4478

 

 

 

Das neue Crip Magazine: Disability an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Aktivismus

Von Eva Egermann, Hanna Hacker, Susanne Hamscha

(Foto: eSel.at; Crip Convention 2021, Belvedere 21)

Das in Österreich entstandene Crip Magazine wurde 2011 als Initiative der Künstlerin Eva Egermann ins Leben gerufen. Zwischen 2012 und 2022 erschienen bisher fünf Ausgaben dieses selbstorganisierten Projekts in Print und als barrierefreies PDF online. Druckexemplare wurden bislang in einer Auflage von jeweils 2.000 bis 7.000 Stück produziert, an öffentlichen Orten verteilt und aufgelegt oder als Beilage anderer freier Medienprojekte vertrieben.

Das Crip Magazine verfolgte von Anfang an einen emanzipatorisch-partizipativen Ansatz: Es wollte die historischen Kämpfe der Behindertenrechtsbewegungen in Erinnerung rufen, gleichzeitig aber auch eine kollektive Plattform für die Beiträge von Künstler*innen, Kulturproduzent*innen und Aktivist*innen mit Behinderungen schaffen. Queere und intersektionelle Zugänge prägen den Inhalt mit. Die Zeitschrift beinhaltet ganz diverse Formate; neben den visuellen künstlerischen Arbeiten sind dies Interviews, Essays und viele weitere textuelle Formen. Für die Herausgeberin handelt es sich vor allem um eine „Materialsammlung“, um das vorläufige Festhalten künstlerischer und diskursiver Prozesse, um das Öffentlichmachen von Entwicklungen „im Werden“.

Parallel zur Arbeit an der Publikation organisierte Eva Egermann mehrere sehr spannende Vernetzungsveranstaltungen, Crip Conventions (2017, 2019 und 2021).

Arbeitsprozesse im Blick zurück und nach vorn

2022 fand sich nun im Kontext dieses Netzwerks ein loses Kollektiv zusammen, um das Magazin, das Eva nicht mehr alleine „stemmen“ kann, weiterzuführen und zu klären, ob und wie es mit diesem Projekt weitergeht. Zu dieser Frage der Übergabe und Fortführung haben wir folgendes Gespräch geführt:

Hanna Hacker (H. H.): In den insgesamt zehn Jahren, in denen du immer wieder eine Crip-Magazine-Nummer herausgebracht hast, was hat dich da am meisten „getragen“, was hat dich dranbleiben lassen oder angetrieben?

Eva Egermann (E. E.): Es war circa 2011, als ich so ziemlich in das Feld der Disability Studies eingetaucht bin und das für mich als unglaublich bereichernden, erweiternden und emanzipatorischen Schatz an Theoriebildung entdeckt habe. Ich habe damals das so ziemlich aufgesogen und alles gelesen, was mir unter die Finger gekommen ist, am Anfang vor allem zu der Geschichte der radikalen sozialen Bewegungen um Behinderung in unterschiedlichen Ländern, zum Beispiel Krüppelbewegung und Antipsychiatrie. Diskurse wie „compulsory able-bodiedness“, Ableismus, Disqualifizierung, Diskriminierungsstrukturen und Ungerechtigkeit: Wo kommt das her und welche Antworten gibt darauf aus den interdisziplinären Disability Studies? Die Idee von Normativität galt als eine der wirkmächtigsten Erzählungen der Moderne. Danach habe ich einfach viele Zusammenhänge und Ungerechtigkeiten erkannt und Ableismus bzw. Diskriminierungsstrukturen in auch unmittelbaren Alltagskontexten gesehen. Natürlich vor allem auch in meinem Arbeitsbereich Kunst und Kultur, denn bürgerliche Hochkultur ist von Ableismus durchzogen. Also, ich würde sagen, die Motivation war in erster Linie, dieses Wissen zu teilen, herauszubringen, damit in Kombination Kulturproduktion etwas Neues zu machen. Eine weitere Motivation war es, das Feld an der Schnittstelle von Queer Studies/Disability Studies/Kunst/Kulturproduktion/Aktivismus voranzubringen und an die Radikalität und die Kämpfe zu erinnern. Mit dem Heft wollte ich auch einen gemeinsamen Kontext schaffen und die Beiträge von verschiedenen Kulturproduzent*innen, Autor*innen und Künstler*innen (mit Behinderungserfahrung) aufsuchen und versammeln. Während im Kunstkontext vor allem am Anfang das Magazinprojekt für Verstörung gesorgt hat, erhielt ich im Laufe der Zeit viel positives Feedback von ganz unvorhersehbaren Kontexten, die das Crip Magazine für sich entdeckt haben. Für manche, jüngere Leute war das Crip Magazine auch teilweise eine Art Initiationsmoment, sich kritisch mit Ableismus zu beschäftigen oder in den Disability Studies zu forschen. Zumindest wurde mir das so zurückgemeldet.

H. H.: Was ist oder war für dich ein inhaltliches Highlight der Hefte? Und was ein Highlight im Arbeitsprozess?

E. E.: Da wäre einiges zu nennen. Die Repolitisierung psychischer Gesundheit wurde in der vorletzten Ausgabe thematisiert, die ich in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Wien herausgegeben habe. Das war eine schöne Ausgabe, durch die das das Projekt auch in Wien bekannter wurde. Aber auch andere Schwerpunkte waren besonders, wie zum Beispiel über die Geschichte zweier Pionier*innen im Kampf gegen die Sonderschule um die Jahrhundertwende und die Geschichte von Behindertenorganisationen zu der Zeit. Oder einer Sammlung mehrerer Beiträge die sich mit „crip time“ befassten, im Heft von 2017, und die vielen großartigen künstlerischen Beiträge in allen Ausgaben. Durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Kunstinstitutionen wurden in den letzten Ausgaben vermehrt Fragen von Inklusion und Ableismus in einer von Prekarität und Individualismus geprägten Kunstwelt aufgegriffen. Um nur einige zu nennen. Ein wesentliches Highlight im Arbeitsprozess ist definitiv, wenn die verschiedenen Inhalte der Beitragenden reinkommen und das gemeinsame Heft entsteht. Ein weiterer Höhepunkt ist, wenn man die Inhalte aus dem Heft zum ersten Mal im Layout sieht. Spätestens dann denkt man sich: „Okay, die viele Mühe hat sich ausgezahlt.“

H. H.: Du bist dabei, das Projekt zu übergeben, jetzt stehen wir also in diesem Prozess des Überlegens, was und wie weiter … Wenn du drei „gute Gaben“ weiterreichen könntest, damit das Projekt auch gut weitergeht oder in neuer Form startet, was wären diese drei Gaben?

E. E.: Mut, Gemeinschaftlichkeit und Freude. Das werdet ihr brauchen. Als weitere mögliche Gaben möchte ich Euch einige Methoden, wie beispielsweise „aesthetics of access“ und „elective affinities“ aus dem Crip Magazine mitgeben. Elective Affinities/ Wahlverwandtschaften /Gemeinschaftlichkeit: Wenn man sich den Raum des Crip Magazins als sozialen Raum vorstellt, ist es ein Raum verschiedener Affinitäten und Wahlverwandtschaften (im Donna Harawayschen Sinn). Ziel ist es, Kategorisierungen und Hierarchisierungen entlang unterschiedlicher Binaritäten, Diagnosen und Fähigkeitsstatus nicht weiter zu reproduzieren. Diese Nachbarschaften und Gemeinschaften werden in der vielfältigen Materialität des Magazins sichtbar. So finden wir den Beitrag der Professorin an der Universität Berkeley neben dem Gedicht des Autors, der in einer betreuten Caritas-Werkstatt arbeitet. Die Arbeit des Gugginger Art-Brut-Künstlers neben dem Plakatsujet einer Gruppe von Aktivisten mit Trisomie 21. Der Text eines radikalen Krüppel Autors neben dem Beitrag von Menschen aus der transaktivistischen Szene. Der Beitrag über die amerikanische Crip-Culture-Szene neben einem der Gründer der österreichischen Behindertenrechts- und Independent-Living-Bewegung. Der Beitrag einer Person, die sich als neurodivers identifiziert, neben der Arbeit einer Künstlerin mit Sehbehinderung. Und so weiter. Ziel ist es, Kategorien nicht weiter zu reproduzieren, sondern alle Schubladen für neue Zugehörigkeiten und Nachbarschaften zu öffnen.

Kunst-und-Disabilities-Projekte international

Ein Blick auf andere Projekte, die Kunst und Disabilities verbinden, zeigt uns, wo sich das Crip Magazine international verorten kann. In Großbritannien findet man mit dem Sick Festival seit 2013 ein digitales Archiv von Videos, Podcasts, Blogs und anderen Formaten, in denen die Erfahrungen und Geschichten von Menschen mit Behinderungen festgehalten werden. Angetrieben von der Disability-Community will das Sick Festival Disability durch das Teilen von Wissen und Erfahrungsexpertise in den Fokus öffentlicher Debatten rücken. Dabei setzt das Sick Festival primär auf künstlerische Produktion als Vehikel nicht auf Aktivismus und politischen Diskurs um dieses Ziel zu erreichen, sondern auf künstlerische Produktion: Durch Tanz, Theater, Film, Spoken Word und andere Kunstformen werden Themen mit Disability-Bezug verhandelt und künstlerische Beiträge kommissioniert. Auf der einen Seite soll Kunst die Möglichkeit bieten, Erfahrungen, die nicht in Worte zu fassen sind, authentisch zu vermitteln. Andererseits sollen – ausgehend von der gelebten Erfahrung mit Behinderung – politische Themen und Positionen durch Kunst verhandelt werden.

In den USA gibt es mit dem Disability Visibility Project ein ähnliches Projekt, das zur Sichtbarkeit von Behinderung im öffentlichen Raum beitragen möchte. Das Disability Visibility Project ist eine Online-Plattform, die das kulturelle und mediale Schaffen von Menschen mit Behinderungen dokumentiert, teilt und verbreitet. Begründet wurde das Projekt von Alice Wong, einer Disability-Aktivistin, deren Kommentare in der New York Times, aber auch in der Teen Vogue veröffentlicht werden. Kernstück des Projekts sind Oral Histories, also „verbale Geschichtsschreibung“, d.h. die Aufzeichnung der Leistungen von Menschen mit Behinderungen. Die geschnittenen Interviews sind online abrufbar und stellen somit ein Archiv an Audio-Dokumenten dar, die das Wissen und die Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen festhalten. Diese Dokumente stehen für sich und werden weder weiter kommentiert noch kontextualisiert oder in größere Diskurse eingebettet. Der Fokus liegt ganz auf dem individuellen Erfahren des In-Der-Welt-Seins: Behinderung wird nicht aus einer nicht-behinderten Linse betrachtet und bewertet, sondern es werden das Wissen und die Erkenntnis festgehalten, die durch Behinderung generiert werden. Die Interviews werden alle in der Library of Congress archiviert und finden somit Einzug in die kollektive, nationale Geschichtsschreibung. Der Widerstand gegen die Priorisierung nicht-behinderter Perspektiven und Erfahrungen findet dadurch in der Mitte der Wissensdokumentation statt, was für die Legitimation behinderter Perspektiven signifikant ist und signalisiert, dass diese Perspektiven Bedeutung haben.

Sowohl dem Sick Festival als auch dem Disability Visibility Project geht es darum, dass Behinderung in all ihren Facetten als wertvoll angenommen wird. Das britische Projekt Disability Arts Online schlägt ebenfalls in diese Kerbe und ist fast ein Hybrid der anderen beiden Projekte. Disability Arts Online will Produktionen von behinderten Künstler*innen fördern und bietet durch sein Magazin, einen Blog und Social-Media-Kanäle mehrere Plattformen, um Kunst zu präsentieren und Netzwerke zu bilden. Dabei wird ein möglichst breiter Ansatz verfolgt: Editorials, Kommentare, Rezensionen und Interviews werden ebenso publiziert wie Stellenanzeigen und andere Möglichkeiten der Karriereentwicklung. Auch Disability Arts Online verfolgt einen Community-Ansatz und dokumentiert durch Erfahrungsberichte und künstlerische Produktionen das Wissen, das aus Behinderung gewonnen wird. Durch Kommentare, Interviews und kurze Artikel wird das, was aus der Community kommt, in größere Debatten und Diskurse eingebettet und die Verbindung zwischen Kunst, Kultur und Politik herausgearbeitet.

Und jetzt?

Fragen, mit denen wir uns in unserer Crip-Magazine-Redaktionsgruppe derzeit recht dringlich befassen und die wir im Rahmen der Forschungswerkstatt ans Publikum weiterreichten, lauten:

  • Welche Notwendigkeiten, welche Wünsche an ein Kunst-/Kulturmagazin der Disability Studies im deutschsprachigen Kontext können festgemacht werden?
  • Wie kann das Magazin die Sichtbarkeit von Disability-Kunst und -Aktivismus im deutschsprachigen Raum stärken?
  • Wo bestehen Möglichkeiten zur Bündelung von Ressourcen?

Kontakt:

evamariaegermann@gmail.com

hanna.hacker@univie.ac.at

susanne.hamscha@gmail.com

Weiterführende Links:

https://cripmagazine.evaegermann.com/

https://sickfestival.com/

https://disabilityvisibilityproject.com/

https://disabilityarts.online/