Die historische Erforschung von Behinderung wie auch das Wissen über die Lebenssituation der betroffenen Menschen stellt in Österreich bislang einen wenig beachteten und fragmentarisch erforschten Bereich dar (Plangger/Schönwiese 2010: 327). Die Vernichtung von Menschen mit Behinderungen und psychisch kranken Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus wurde in Österreich zumindest seit den späten 1970er Jahren zunehmend zum Objekt der historischen Forschung, die Entwicklungen vor 1938 und nach 1945 – samt den zahlreichen Kontinuitäten – wurde bislang kaum erforscht. Es ist festzustellen, dass Forschungsprojekte, Veröffentlichungen und auch akademische Arbeiten zum Themenbereich der Disability History in Österreich – im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Raum und auch zu Deutschland – bislang kaum vorzufinden sind. Die historische Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung beschränkt sich bislang fast ausschließlich auf Darstellungen und Chroniken von einzelnen Einrichtungen, die jedoch vor allem institutionengeschichtlich ausgerichtet sind.
Behinderung ist durch die jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen, durch die kulturelle Perzeption und Repräsentation des verkörperten Andersseins, durch soziale Ungleichheit und Ausgrenzung, durch Symbolik und Habitus wie auch durch die (fehlende) Geschichtsschreibung geprägt. Die Wahrnehmung und die Bedeutung von Behinderung ist durch die Omnipräsenz kultureller Prägungen und sozialer wie auch politischer Herrschaftsverhältnisse zeit-, kultur- und wertgebunden und hängt von den historischen Zusammenhängen ab. Zu jeder Zeit gibt es verschiedene Geschichten von Behinderung. Aufgabe der Disability History ist es, die vielfältigen, komplexen, aber auch verborgenen und oftmals leider schon vergessenen und kaum rekonstruierbaren Geschichten von Behinderung zu erforschen.
Im Sinne der Disability Studies geht die Disability History davon aus, dass die Lebenssituation von behinderten Menschen weniger von ihrer individuellen Beeinträchtigung abhängt, sondern in Zusammenhang mit ausgrenzenden rechtlichen, sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen und mit den eingeschränkten Möglichkeiten zu gesellschaftlicher Partizipation zu sehen ist.
Disability History vermeidet, Behinderung als medizinisches Problem zu betrachten, sondern stellt die soziale und Minoritätsperspektive in das Zentrum der Betrachtung. Nicht die individuelle Beeinträchtigung gilt es zu erforschen, sondern Behinderung in Zusammenhang mit der sozialen, politischen und kulturellen Bedeutung und die gesellschaftlichen Zuschreibungen. Die sozio-ökonomische Einordnung der Geschichte(n) von Behinderung sollte dabei stets Beachtung finden (Poore 2007).
Disability History unternimmt unter dieser Prämisse den Versuch, die betroffenen Menschen als Subjekte wahrzunehmen und sich dabei von den traditionellen Erfolgsgeschichten der Medizin, der sozial-karitativen Einrichtungen und des Sozialstaates zu lösen (Bösl 2009). Ihr geht es einerseits darum, eine neue Geschichte, geprägt von sozialer Ungleichheit und kollektiver Identitätsbildung von Behinderung, zu schreiben und andererseits, Behinderung als Analysekategorie wie beispielsweise Geschlecht, soziale oder ethnische Zugehörigkeit, in der Forschung zu etablieren (Longmore/Umansky 2011; Bösl 2010). Sie erforscht Phänomene, Identitäten, Strukturen und Institutionen, die in Zusammenhang mit Behinderung stehen oder zu sehen sind. Als wesentlich erscheint es aber auch zu versuchen, historische Spuren von Behinderung und von Menschen mit Behinderungen in den verschiedensten Lebens- und Gesellschaftsbereichen (Politik, Kultur, Wirtschaft, Arbeit, Wissenschaft, Bildung, etc.) zu dokumentieren und nachzuzeichnen.
Von Angela Wegscheider
Literatur:
Elsbeth BÖSL, Was ist Disability History. Zur Geschichte und Historiografie von Behinderung. In: Elsbeth BÖSL, Anne KLEIN, Anne WALDSCHMIDT (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte (Bielefeld 2010) 29–43.
Elsbeth BÖSL, Dis/ability History: Grundlagen und Forschungstand. In: H-Soz-u-Kult, 07.07.2009, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-07-001.
Paul LONGMORE, Lauri UMANSKY, Introduction: Disability History: From the Margins to the Mainstream. In: Paul LONGMORE, Lauri UMANSKY (Hg.), The New Disability History: American Perspectives. (New York 2001) 1-32.
Sascha PLANGGER, Volker SCHÖNWIESE, Behindertenhilfe – Hilfe für behinderte Menschen? Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol. In: Horst SCHREIBER, Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol (Innsbruck 2010) 327–346.
Carol POORE, Disability in Twentith-Century German Culture (Michigan 2007)