Während der Pride Month im Juni auch bei uns schon in unseren Breiten zelebriert und medial begleitet wird, ist der ebenfalls aus den USA kommende Disability Pride Month Juli bei uns noch kaum bekannt. Auch die Flagge von Ann Magill kennen noch die Wenigstens. Deshalb soll zumindest hier auf beides aufmerksam gemacht werden.
Quelle_ Ann Magill Wikimedia
Die Tatsache, dass alle sechs Standard-Flaggenfarben vertreten sind, soll symbolisieren, dass Behinderungen nicht vor Grenzen halt macht, sondern jedes Land und jede Nation betrifft.
Das schwarze Hintergrundfeld steht für das Gedenken an die Opfer von ableistischer Gewalt und Misshandlung.
Der Diagonalstreifen in der Mitte soll mit seiner Form anzeigen, dass die Grenzen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen eingeschnitten werden sollen.
Die einzelnen Farben im Diagonalstreifen symbolisieren:
Rot: körperliche Beeinträchtigungen
Gelb: körperliche Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten / Neurodivergenz
Weiß: unsichtbare und undiagnostizierte Beeinträchtigungen
Jedes Jahr organisiert ALTER European Society for Disability Research eine Konferenz, an der sie Forscher-innen aus vielen Ländern zusammenbringt, um wissenschaftliche Erkenntnisse und Ideen zu Behinderung und Gesellschaft auszutauschen. Die 11. Konferenz widmete sich dem Thema „Sicherheit, Autonomie und Emanzipation: eine (un)mögliche Allianz? und fand von 28. bis 30. Juni 2023 an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) auf dem Condorcet-Campus in Aubervilliers statt. Die Beiträge erstreckten sich über viele Disziplinen und deckten eine breite Palette an sozialen, politischen, kulturellen, historischen, philosophischen und menschenrechtlichen Perspektiven ab. Ein besonderes häufig vorkommendes Thema war die disjunktive Allianz von Sicherheit, Autonomie und Emanzipation in sozialen Diensten, die der Staat für Menschen mit Behinderungen bereitstellt.
Genau mit diesem Fokus vor Augen erarbeiteten Matthias Forstner und Angela Wegscheider, beide von der Johannes Kepler Universität Linz und bei DiStA aktiv, ein Paper mit Modellen zu Erklärung und Analyse von Social Service Relations. Sie untersuchten und theoretisierten Perspektiven bezüglich Autonomie und Paternalismus in den Disability Studies, der Medizinethik und der feministischen Therorie und analyisierten mit diesen die österreichische Behindertenpolitik und den sozialen Diensten für Menschen mit Behinderungen. In ihrer Präsentation auf der ALTER-Konferenz stellten sie die erarbeiteten Modelle als analytische Linse für die Untersuchung von sozialen Diensten vor, welche die Verortung ihrer Charakteristik in Bezug auf Sicherheit und Schutz als auch Autonomie und Selbstbestimmung ermöglichen sollen. Die Ergebnisse ihrer Analyse zeigen, dass sich drei Perspektiven auf Behinderung in Bezug auf Autonomie und Paternalismus in Österreichs Behindertenpolitik und sozialen Diensten für Menschen mit Behinderungen widerspiegeln: die medizinisch orientierte, die libertäre und die menschenrechtsbasierte.
Alle zwei Jahre organisiert das Nordic Network on Disability Research eine Konferenz, an der sie Forscher-innen, politische Entscheidungsträger-innen, Aktivist-innen und Praktiker-innen zusammenbringt, um wissenschaftliche Erkenntnisse und Ideen auszutauschen. Die Konferenz bietet ein Forum für die internationale Zusammenarbeit in den Disability Studies und die Beiträge erstreckten sich über viele Disziplinen und deckten eine breite Palette an sozialen, politischen, kulturellen, historischen, philosophischen und menschenrechtlichen Perspektiven ab.
Als eine von 17 Beitragenden aus Österreich, aber als einzige Historikerin, präsentierte Lisa Maria Hofer erste Teilergebnisse ihrer Studie zum Linzer Taubstummeninstitut zwischen 1812 und 1869 und der Frage, wie Behinderung in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, von derartigen Schulen im 19. Jahrhundert konstruiert wurde. In einer intersektionalen Gruppierung von 953 Schüler-innen konnte sie zeigen, dass häufig verschiedene intersektionale Marker wie verminderter sozioökonomischer Status, Geschlecht und verschiedene Zuschreibungen von Bildsamkeit und Gehörlosigkeit nebeneinander existierten. Damit war es möglich eine erste Orientierung in den Daten anzubieten. In ausgewählten Fallbeispielen, im Vortrag bezeichnet als Mikrobiografien von ehemaligen sogenannten Zöglingen, wurde klar, welches Wechselspiel die Überlagerung von Klasse, Behinderung und Geschlecht in konkreten Lebensverläufen bedeuten konnte. Nachzulesen hier: https://dista.uniability.org/2023/05/partizipative-historische-forschung-in-der-praxis/ und https://dista.uniability.org/2022/07/das-linzer-taubstummeninstitut-1812-1869-ein-forschungsprojekt/
Angela Wegscheider präsentierte die vielfältige, inspirierende und lange vergessene Geschichte einer frühen Behindertenbewegung in Österreich. Siegfried Braun (1893-1944) war einer der Gründer der Ersten Österreichischen Krüppelarbeitsgemeinschaft, welche das Recht auf Bildung und Ausbildung als auch Emanzipation und soziale Rechte forderte. Durch die Verwendung von Archivmaterial, u.a. zahlreiche Zeitungsberichte von und über Braun und seine Gruppe aus den 1920er und 1930er Jahren kann rekonstruiert werden, dass sich diese Gruppe davon lösen wollte, als Objekte der Wohltätigkeit betrachtet zu werden. Ende der 1920er Jahre unternahm Braun ausgedehnte Reisen, z. B. durch die Tschechoslowakei, Skandinavien und Deutschland. Braun verfolgte und dokumentierte die Entwicklung der zahlreicher Behindertenorganisationen und der öffentlichen „Krüppelfürsorge“ in vielen Ländern. 1943 deportierte das NS-Regime den als Juden identifizierten Siegfried Braun in das Ghetto Theresienstadt und 1944 in Auschwitz ermordet. Siegfried Braun wurde als „wichtige Person“ bei der Organisation des illegalen Erziehungsprogramms von Theresienstadt bezeichnet. Selbst in der unwirtlichen Umgebung des Ghettos setzte er sich für Selbsthilfe und Bildung ein. Nachzulesen auch hier: https://doi.org/10.1080/09687599.2021.1976111
Rahel More präsentierte in ihrem Beitrag Überlegungen zu ‚storying ableism‘ und schlägt dafür einen feministischen intersektionalen Zugang zur Verknüpfung von Theorie und digitalem Aktivismus vor. Storying (Geschichtenerzählen) wir dabei als Ausgangspunkt für die Theoriebildung gesehen. Da Ableism sowohl ein aktivistischer Begriff als auch ein komplexes theoretisches Konzept ist, das von sozialen Bewegungen behinderter Menschen eingeführt und geprägt wurde, ist die Anerkennung aktivistischen Wissens über Ableism zentral. Eine theoretische Debatte losgelöst von ihrem aktivistischen Hintergrund und auch aktuellen aktivistischen Debatten birgt hingegen die Gefahr einer Entpolitisierung. In den letzten Jahren hat insbesondere digitaler Aktivismus mehr Aufmerksamkeit erhalten und bietet – trotz zahlreicher Herausforderungen – Potenziale für die Bewusstseinsbildung zu Ableism sowie für die Vernetzung in Aktivismus und Allyship. Nachzulesen auch hier: https://doi.org/10.1177/14647001231173242
Titel und Abstracts aller anderen Beiträge sind über die Konferenzhomepage zu finden: https://nndr2023.is/
Die nächste NNDR-Konferenz wird 2025 in Helsinki (Finnland) stattfinden.
„Nothing about us, without us” in der Geschichtswissenschaft!?
Von Lisa Maria Hofer
Das in diesem Beitrag dargestellte Forschungsprojekt präsentierte Lisa Maria Hofer bei der 2. DiStA Forschungswerkstatt 2023.
Der Geschichtswissenschaft kommt in vielen Bereichen eine identitätsstiftende Wirkung zu. Interpretationen der Vergangenheit haben einen Einfluss darauf, wie Gemeinschaften die Gegenwart deuten und letztlich auch wie sie ihre Zukunft gestalten. Die Geschichtswissenschaft ist aber räumlich und zeitlich an die jeweilige Gegenwart gebunden in der sie agiert. Anders ausgedrückt, nur aus der jeweiligen Gegenwart heraus kann man auf die Vergangenheit schauen. Alle Historiker-innen unterliegen dabei einer sogenannten Standortgebundenheit, die mindestens zwei Ebenen kennt, denn einerseits ist die forschende Person an ihre Zeit gebunden, andererseits auch an die eigene Sozialisation, die einen gewissen Bias in der Art der Fragestellung bedingt, bzw. auch die Lesarten und die Interpretation der Quelle beeinflussen kann. Wiederum die Fragen können aus aktuellen Problematiken resultieren, können aber auch schlichtweg ihren Ursprung im persönlichen Erkenntnisinteresse der-des Historiker-in haben.[1]
Ein weiterer Eckpfeiler der historischen Arbeit ist es, dass die verwendeten Quellen aus verschiedenen Perspektiven heraus verfasst sein sollen, um ein möglichst umfassendes Bild zeichnen zu können und der erkenntnisleitenden Frage gerecht zu werden. Man spricht von Multiperspektivität. Natürlich sind hier mit großer Wahrscheinlichkeit Leerstellen zu erwarten, da niemand anhand künftiger Fragestellungen Archivalien sammelt und überliefert. Multiperspektivität berücksichtigen zu können, hängt also auch von Überlieferungspraxen und Wertzuschreibungen der untersuchten Vergangenheit ab.[2]
Der historische Forschungsprozess sieht weiters vor, eine Quellenkritik durchzuführen, die inhaltliche und materielle Authentizität untersucht. So entsteht allerdings noch keine fertige historische Darstellung, denn die Quellen sollten noch in einen theoretischen Rahmen gestellt werden, bzw. die bisherige Literatur zum Thema einbezogen werden.[3]
Partizipative Sozialforschung bedeutet, dass Gruppen in den Forschungsprozess einbezogen werden, die durch ihre Sozialisation bzw. ihren bisherigen Lebenslauf einen inhaltlichen Beitrag im Forschungsprozess leisten können. Für die Geschichtswissenschaft/Sozialwissenschaft gibt es dazu bisher ein Referenzprojekt: „Das Bildnis eines behinderten Mannes“[4]. In diesem Projekt forschte eine interdisziplinäre Gruppe, auch mit Mitforschenden ohne wissenschaftliche Ausbildung, an der namengebenden Bildquelle (Entstehungszeit ca. 16. Jahrhundert) aus dem Schloss Ambras in Innsbruck und legte am Ende einen historischen bzw. sozialwissenschaftlichen Forschungsbericht vor. Alle Perspektiven wurden in der Interpretation als wertvoll erkannt und zu einer Narration verwoben, die Theorie und weitere historische Quellen miteinbezog. Die Interpretation oblag nicht alleine einer Person.[5]
Anhand dieses Referenzprojekts wurde für die Erforschung der historischen Konstruktion von Behinderung in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht am Beispiel der sogenannten Taubstummenanstalt zwischen 1812 und 1869 ein Forschungsdesign entwickelt, dass die deaf community in die Quellensichtung miteinbezieht. Zu diesem Zweck wurden bisher drei lebensgeschichtliche Interviews mit Quellenbezug geführt. Dazu wurde eine barrierefreie Kommunikation und deren Finanzierung sichergestellt. Die Interviews wurden über Zoom geführt und derzeit laufen die Auswertungen. Gemeinsam mit den Interviewpartner-innen wurde zunächst die Entstehungsgeschichte der Taubstummenanstalt Linz zwischen 1812 und 1869 besprochen, darauffolgend wurden allgemeine persönliche Daten zu den Personen selbst erhoben und anschließend verschiedene Quellen gemeinsam gelesen und diese anhand von Leitfragen diskutiert. Diese Leitfragen waren aber kein starres Korsett, sondern eher eine Diskussionsanregung.[6]
Partizipative Geschichtsforschung
Das Projekt zum Linzer Taubstummeninstitut untersucht die Rolle von Schüler-innen, Lehrkräften und Erziehungsberechtigten in der sozialen und wirtschaftlichen Konstruktion von Behinderung. Der Teilaspekt der Zukunftsaussichten von Schüler-innen mit Gehörlosigkeit steht hier als Beispiel für die Ergebnisse dieser Diskussion mit der deaf community. Im Taubstummeninstitut Linz besuchten zwischen 1812 und 1869 953 Schüler-innen den Unterricht. Bei 120 wurde der weitere berufliche Werdegang dokumentiert. Lediglich ein Schüler besuchte eine weiterführende Ausbildung, die übrigen 119 erlernten einen Handwerksberuf oder arbeiteten im Dienstleistungssektor. Dieses Ergebnis ist zunächst nicht verwunderlich, wenn man Urs Haeberlins „doppelte Realität“[7] des niederen Schulwesens in der Interpretation anwendet. Auch im Regelschulwesen, also ohne Vorliegen von Gehörlosigkeit, war das Schulwesen im 19. Jahrhundert wenig durchlässig, wenn die Familien der Jugendlichen keinen hohen sozioökonomischen Status hatten. Erstaunlich sind eher die Ergebnisse aus den Interviews, die die Erfahrungswelten der deaf community aus den letzten 30 Jahren zeigen. Vertreter-innen der Gemeinschaft gaben in den an, dass die Berufsberatung noch immer in Richtung Lehrberuf geht und eine höhere Bildung auch systemisch nicht vorgesehen ist, was bedeutet, dass die barrierefreien Voraussetzungen in Österreich nicht vorhanden sind. Sie stellten im Gespräch einen direkten Zusammenhang zwischen sich selbst und ihrer Sozialisation und den Inhalten der historischen Quellen her.[8]
Eine weitere zentrale Rolle spielt die zusätzliche Pathologisierung, die häufig durch die Schule erfolgte, denn bereits zwischen 1812 und 1869 fällt auf, dass von 953 Schüler-innen 237 das Label „blödsinnig“[9] erhalten, was in der heutigen Terminologie einer verminderten Bildungsfähigkeit gleichkommt. Die Unterscheidung zwischen einer kognitiven Einschränkung und der Beeinträchtigung des Hörapparats wurde im 19. Jahrhundert im Taubstummeninstitut Linz nicht klar getroffen. Es existierten keine Kriterien für diese pädagogische Diagnose. Auffällig ist jedoch, dass auch heute noch Vertreter-innen der deaf community von ähnlichen Erfahrungen berichten, wonach die Schüler-innen gehörlos in ihre Schulkarriere starten und am Ende zusätzlich zur sensorischen Beeinträchtigung eine kognitive Lernschwäche attestiert bekommen. Die Untersuchungskriterien werden als undurchsichtig empfunden, bzw. als nicht angepasst an die Bedürfnisse eines Kindes ohne Gehör, da in Lautsprache geprüft wird. [10]
Als vorläufiges Kurzfazit zu diesem Werkstattbericht sollen folgende Fragen stehen: Warum leistet man sich in Österreich eines der teuersten Bildungssysteme weltweit, wenn man Inklusion nicht umsetzt und an über 200 Jahre alten Strukturen festhält? Welche Funktion will das österreichische Bildungswesen erfüllen? Selektion oder Inklusion?
Gesetzliche Anpassungen, die für die deaf community einen Bildungsweg bis in die Oberstufe ermöglichen würden, sind überfällig und verstoßen damit gegen die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention aus 2008. Damit diese Änderung stattfinden kann, wurden schon zahlreiche Petitionen[11] gestartet, doch würde ein Präzedenzfall vielleicht eher zu einer gesetzlichen Änderung beitragen, der aber viel Zeit, Mühe und Kosten für Interessensvertretungen bedeuten würde. Die gesetzliche Basis wird dazu alleine nicht ausreichen, es müssen auch andere Maßnahmen getroffen werden, etwa eine inklusivere Berufsberatung, am besten durch role models in Schulen, oder den flächendeckenden Ausbau von Fördermöglichkeiten. Gleichzeitig müssen künftige Lehrkräfte aller Schulstufen entsprechend sensibilisiert sein und im besten Fall schon im Studium mit Beratungsstellen in Kontakt kommen.
Inklusion im Bildungswesen ist insgesamt als ein Entwicklungsprozess zu begreifen, der zunächst die historischen Anfänge der Institutionen aufarbeiten sollte und in Verbindung mit Erfahrungswelten der letzten Jahrzehnte nicht nur eine Argumentationsbasis darstellen kann, sondern die Basis für Kritik und Verbesserungsvorschläge bildet.
Lisa Maria Hofer studierte Geschichte und Germanistik als Lehramtsfächer für die Sekundarstufe II an der Universität Salzburg. Aktuell arbeitet sie als Universitätsassistentin an der Universität Linz.
[1] Vgl. Jordan, Stefan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. 3. Aufl., Wien u.a. 2016, S. 15 – 17, S. 47 – 49.
[2] Vgl. Klaus Bergmann, Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Wochenschau Schwalbach/Ts. 2000.
[3] Klaus Arnold: Der wissenschaftliche Umgang mit Quellen. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. 2. Auflage. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 42–58, hier S. 5.
[4] Vgl. Christian Murner, Volker Schönwiese, Hg., Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. Bis 21. Jahrhundert. Ausstellungskatalog und Wörterbuch. Neu-Ulm 2006.
[5] Vgl. Rico Defila & Antonietta Di Giulio, Partizipative Wissenserzeugung und Wissenschaftlichkeit – ein methodologischer Beitrag, in: Rico Defila & Antonietta Di Giulio (Hg.), Transdisziplinär und transformativ forschen, Eine Methodensammlung, Wiesbaden 2018, S. 39 – 69, S. 55 – 60; Petra Flieger, (2003), Partizipative Forschungsmethoden und ihre konkrete Umsetzung. bidok:: Bibliothek :: Flieger – Partizipative Forschungsmethoden und ihre kon… (uibk.ac.at).
[7] Vgl. Urs Haeberlin (2006): Schule, Schultheorie, Schulversuche. In: Georg Antor (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer, S. 276–279, S. 276.
[9] Diözesanarchiv Linz, Catalog der k.k. Provincial-Taubstummen Lehranstalt Linz seit der Zeit ihres Entstehens im Jahre 1812
[10] Vgl. Diözesanarchiv Linz, Catalog der k.k. Provincial-Taubstummen Lehranstalt Linz seit der Zeit ihres Entstehens im Jahre 1812, Lebensgeschichtliche Interviews mit Frau W. März 2023
Sind behinderte Menschen eigentlich ein Teil der Bevölkerung? Oder sind wir Sonderfälle, die manchmal innerhalb, manchmal außerhalb der Gesellschaft leben sollen?
Von Kassandra Ruhm
Bei der DiStA-Forschungswerkstatt am 5. Mai 2023 haben wir – neben mehreren anderen spannenden Themen – wieder einmal darüber diskutiert, wie man an verschiedenen Stellen Barrieren aushebeln könnte und wo es Fördermöglichkeiten für die Inklusion einzelner behinderter Menschen gäbe. Ich habe mich schon so viele hundert Stunden gegen Diskriminierung behinderter Menschen und für gesellschaftliche Gerechtigkeit eingesetzt und werde das auch weiter tun – aber ist das wirklich die Aufgabe behinderter Betroffener und nicht die Aufgabe der politischen Entscheidungsgremien und der ausführenden Organe? Es sollte staatlich finanzierte Stellen geben, die unsere Fachkenntnisse einbeziehen und für den Abbau von Barrieren und Benachteiligungen sorgen, statt behinderten Menschen unbezahlt den größten Teil der Arbeit zuzuschieben.
Zumindest eine staatliche Verpflichtung
Der Staat reagiert bei den allgegenwärtigen Rechtsbrüchen zum Nachteil behinderter Menschen oft viel zu wenig. Während wir selbst wenig Sanktionsmöglichkeiten haben, sondern wie Sisyphos immer wieder Steine hoch rollen gegen Organisationen, die einfach keine Lust haben, ihre Barrieren und Benachteiligungen zu beseitigen. Ich finde, das darf nicht so weiter gehen.
In Deutschland z.B. gibt es keine Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, obwohl die Behindertenrechtskonvention etwas anderes vorgibt. Das ist ein großes Problem. Aber bei allen Institutionen, die mit öffentlichen Geldern gefördert werden, hat die öffentliche Hand eine sehr gute Handhabe, Barrierefreiheit einzufordern. Wenn sie das will. Mit einer handfesten rechtlichen Grundlage: Der Gesetzgeber hat im deutschen Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) unter § 1, Abs. 3 festgelegt:
„Gewähren Träger öffentlicher Gewalt Zuwendungen nach § 23 der Bundeshaushaltsordnung als institutionelle Förderungen, so sollen sie durch Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder vertragliche Vereinbarung sicherstellen, dass die institutionellen Zuwendungsempfängerinnen und -empfänger die Grundzüge dieses Gesetzes anwenden. Aus der Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder der vertraglichen Vereinbarung muss hervorgehen, welche Vorschriften anzuwenden sind.“
Inhalt der Gesetze in Deutschland und Österreich
Barrierefreiheit und der Abbau von Benachteiligungen gehören zu den wichtigen Grundzügen des Behindertengleichstellungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wäre es ein Leichtes, immer wenn jemand öffentliche Gelder beantragt, diese Gelder mit der Auflage zu versehen, dass das jeweilige Angebot barrierefrei nutzbar ist. Ausnahmen und Einschränkungen der Barrierefreiheit könnten individuell beantragt und geprüft werden. Anders herum, als es heute ist: Bisher müssen behinderte Menschen noch zu oft individuell ihre Teilhabe beantragen und mühsam erkämpfen.
Ich gehe davon aus, dass eine ganze Reihe von deutschen Bundesländern die Vorgaben des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes in den Landes-Behindertengleichstellungsgesetzen umgesetzt haben. Und wenn sie es noch nicht in einem aktuellen Landesgleichstellungsgesetz schriftlich fixiert haben, gibt es andere Möglichkeiten, die Forderung zu begründen, dass öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote verwendet werden dürfen. Zum Beispiel wegen eines Diskriminierungsverbotes, wegen der Gleichheit aller Menschen oder wegen anderer Vorgaben der jeweiligen Landesgesetze.
In Österreich gibt es eine ähnliche gesetzliche Vorgabe im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz konkret in § 2, Abs. 1 (Geltungsbereich) in Verbindung mit § 8 (Verpflichtung des Bundes). (Danke an Martin Ladstätter für die Information!)
Ein Beispiel wie es nicht sein darf
Nein, es geht nicht darum, dass fast alle Häuser geschlossen werden müssten, weil wir behinderten Menschen so unglaublich große Forderungen stellen würden. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Bremer „Zentrum für queeres Leben“ befindet sich die Toilette im Keller. Man müsste erst einige Stufen hoch und danach eine lange und enge Treppe heruntersteigen, um sie zu erreichen. Ich habe nie gefordert, dass in dem engen, alten Haus ein Fahrstuhl zur Toilette eingebaut würde. Ich hatte den Eindruck, das wäre nicht mit einem tragbaren Aufwand realisierbar. Aber einen würdevolleren und sichereren Eingang in den unteren Hausbereich hätte ich durchaus gewünscht. Mittlerweile habe ich aufgegeben.
Und dann geht es doch!
Der Eingang in den Veranstaltungsraum des schwul-lesbisch-queeren Zentrums (KCR) in Dortmund, in der Nähe meiner alten Heimat im Ruhrgebiet, hatte früher 1 ½ Stufen. Ab 1993 habe ich mich mit meinem ersten eigenen Rollstuhl immer wieder diese Stufen hoch gequält, um dabei sein zu können. Natürlich habe ich mehrfach für eine Rampe argumentiert. Ohne Erfolg. Einige Zeit später hat das Studierendenparlament der Uni Dortmund entschieden, nur barrierefreie Veranstaltungen finanziell zu unterstützen. Eine dieser Veranstaltungen sollte im KCR stattfinden – und was sag‘ ich Euch? Innerhalb kürzester Zeit haben die Vereinsmitglieder eine Rampe gebaut und die Veranstaltung hat wie geplant dort stattgefunden. Zu mir hat damals jemand gesagt: „Ach, eine Rampe wollten wir doch schon lange haben.“ Aber ich und die anderen Rollstuhlfahrer-innen vor Ort haben nicht als Grund ausgereicht, um diesen Wunsch umzusetzen. Mehrere Jahre nicht. Mit der Bindung der Zuwendung der Uni Dortmund an die Barrierefreiheit hatten wir die Rampe innerhalb weniger Wochen. So wünsche ich es mir auch mit allen anderen Geldern unserer Gemeinschaft, unseres Staates.
Gleiches Recht auf gleiche Teilhabe
Wir behinderten Menschen sind ein Teil der allgemeinen Bevölkerung. Wir sind keine Einzelfälle, keine überraschende Ausnahme, mit der niemand rechnen konnte. Wir sind keine andere Kategorie von Lebewesen und keine Menschen 2. Klasse. Wir haben die gleichen Bürgerrechte, wie die anderen auch. Wenn unser Staat das Gemeinschaftsgeld verwendet, um öffentliche Angebote zu unterstützen, dann müssen diese Angebote tatsächlich öffentlich sein, also allen Mitgliedern der Gemeinschaft offenstehen. So wie es § 1, Abs. 3, des Behindertengleichstellungsgesetzes vorsieht. Sonst sind die öffentlichen Gelder dort falsch eingesetzt. Denn wir behinderten Menschen gehören zur Gesellschaft dazu.
Kassandra Ruhm referierte bei der 2. DiStA Forschungswerkstatt 2023. Sie lebt in Bremen, Deutschland. Kassandra Ruhm arbeitet als Psychologin und setzt sich in ihrer Freizeit mit Kunst, Artikeln und Veranstaltungen für den Abbau von Vorurteilen und eine gerechtere Gesellschaft ein. Mehr Infos: www.Kassandra-Ruhm.de
Zuerst veröffentlicht als Kolumne bei DIE NEUE NORM: Ruhm, Kassandra (2023): Öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote! Erschienen am 16. Mai 2023 online in: Die Neue Norm – das Magazin für Disability Mainstreaming. https://dieneuenorm.de/kolumne/oeffentliche-angebote/
Am 5. Mai 2023 fand zum zweiten Mal die Österreichische Online Inter- und Transdisziplinäre Dis/Ability-Forschungswerkstatt statt. Ziel der Veranstaltung war vor allem die Vernetzung und die Verbreitung der vielfältigen Projekte im Bereich der emanzipatorischen Behinderungsforschung in Österreich. Heuer stand die Forschungswerkstatt im Zeichen des 15-jährigen Jubiläums des Inkrafttretens des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Dies geschah am 3. Mai 2008 nachdem, wie in der Konvention festgelegt, diese von 20 Staaten ratifiziert worden war. Fast 75 Personen nahmen an der Veranstaltung teil, verfolgten die Beiträge der Vortragenden aus einer Vielzahl von Disziplinen und brachten sich in rege Diskussionen ein. Alle Beiträge wurden simultan in Schrift und ÖGS übersetzt.
Den ersten Slot zum Thema Hochschule moderierte Matthias Forstner. Zuerst referierte Michaela Joch (WU Wien) in ihrem Beitrag über Inklusions- und Exklusionsmechanismen in der akademischen Wissenschaft aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen, die wissenschaftlich tätig sind. Theresa M. Straub (Uni Innsbruck) legte sodann ihren Fokus auf Studierende mit Behinderungen und ihre Sichtweisen, wie die Aufnahme zum Studium sowie dessen und Abschluss gelingen. Ein Fokus lag dabei auf den diesbezüglichen Barrieren im System Universität.
Slot 2 zu (Geschlechter-)Vielfalt moderierte Rahel More. Julia Seuschez (Uni Klagenfurt) präsentiere die Ergebnisse ihrer Forschung zu Intersexualität und Geschlechtsidentität im Kontext des Ullrich-Turner-Syndroms und verband diese mit dem Konzept des Otherings. Im darauffolgenden Beitrag wies Kassandra Ruhm (Uni Bremen) darauf hin, dass für Menschen mit Behinderungen ungleiche Chancen für die Nutzung von Psychotherapie und psychosozialer Beratung bestehen. Um mehr Anbieter:innen von Beratungsarbeit dazu zu ermutigen, auch mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, erarbeitete sie eine Broschüre, die aufzeigt, wie in solchen SituationenVielfalt und Intersektionalität erreicht werden kann und welche Faktoren diesbezüglich zu beachten sind.
Nach der Mittagspause moderierte Andreas Jeitler Slot 3 zu Partizipation. Lisa Maria Hofer (Uni Linz) stellte erste Ergebnisse ihres Disability History Forschungsprojekt mit einem partizipativen Zugang vor. Im Fokus ihrer Forschung steht die Geschichte des Linzer ‚Taubstummeninstituts‘ von 1818-1919. Nikolaus Hauer und Helga Fasching (Uni Wien) präsentierten ein von ihnen erfolgreich umgesetztes Projekt, als Beispiel, wie universitäre Lehre partizipativ gestaltet werden kann. Dabei berichteten sie auch von den verwendeten Methoden.
Am Ende der Veranstaltung moderierte Angela Wegscheider eine offene Diskussion zu Partizipation an und in der Wissenschaft. Anleitend für die Diskussion war das DiStA Positionspapier zu Disability Studies in Österreich. Während sich schon nach den einzelnen Beiträgen sehr interessante und kurzweilige Interaktionen ereigneten kam es auch nun zu einer regen Beteiligung der Anwesenden, die trotz allerschönstem Frühlingswetter noch immer zahlreich anwesend waren.
Wir danken allen Teilnehmenden und Vortragenden für die gemeinsame Veranstaltung und planen für das Sommersemester 2024 eine Wiederholung.
Das Organisationsteam,
Matthias Forstner, Andreas Jeitler, Rahel More und Angela Wegscheider
Im Newsletter Behindertenpolitik erschien ein Text über das Leben von Siegfried Braun und zusätzlich ein Portrait von ihn. Damit wurde erstmals ein Foto von dem Aktivisten und Mitbegründer der Ersten Österreichischen Krüppelarbeitsgemeinschaft veröffentlicht.
Das Foto ist Teil eines Antrages zur Vereinsgründung aus dem Jahr 1933, den Siegfied Braun bei den tschechischen Behörden einreichte. Siegfried Braun und seine Mitstreiter hatten das Ziel, einen Verein für Menschen mit Körperbehinderungen in der Tschechischen Republik zu gründen, der Emanzipation von und Rechte für Menschen mit Behinderungen fördern sollte. Volker Schönwiese und Angela Wegscheider haben diese Unterlagen im tschechischen Staatsarchiv entdeckt.
Seit 2000 erscheint das BIOSKOP mit dem Newsletter Behindertenpolitik. Die Zeitschrift BIOSKOP des gleichnamigen Forums zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien hat ihren Sitz in Deutschland. Das Forum beobachtet, analysiert, kommentiert die gesellschaftspolitischen Szenarien der »Life-Sciences«-Propagandist*innen in Politik, Industrie und Hochschulen. Ihre Analysen sind auch für den österreichischen Kontext relevant, sowie unabhängig und kritisch.
Länger zurückliegenden Hefte sind online abrufbar:
Nur wenige Medienberichte fassen sich mit dem aktuen Personalmangel in der persönlichen Assistenz und ihren Folgen für die Betroffenen. Denn keine Assistent-innnen zu haben kann für viele Menschen mit Behinderungen lebensgefährlich sein. Die FURCHE greift das Thema den Arbeitskräftemangel in der persönlichen Assistenz endlich mal wieder auf.
In Österreich leben rund 2.000 Menschen selbstständig mit persönlicher Assistenz. Ihr Assistenzbedarf basiert dem ärztlich eingeschätzten Pflegebedarf. Damit erhalten sie eine monatliche Förderung, mit der sie ihre Assistent-innen zahlen können. Auswählen zu dürfen, welche Assistent-innen zu einem passen und welche nicht, ist durch die Intimität des Jobs essenziell, erklärt Matthias Forstner. Der Soziologe forscht an der Johannes Kepler Universität Linz zu Disability Studies und arbeitet selbst mit persönlicher Assistenz arbeitet. Mehr dazu hier: Tödlicher Personalmangel: Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung | Die FURCHE
Warum die ORF Hilfskampagne „Licht ins Dunkel“ in der Kritik steht
Bundespräsident Alexander Van der Bellen nimmt am 24.12.2022 telefonisch Spenden entgegen (oder tut so als ob für die Kamera). (Quelle: Licht ins Dunkel)
Der Beitrag wurde verfasst von Andrea Lehner, Studentin im Bachelorstudium Sozialwirtschaft, im Rahmen der LVA Österreichische Politik, Schwerpunkt Gleichstellungspolitik.
Am 24. Dezember 2022 fand im ORF zum 45. Mal die traditionelle „Licht ins Dunkel“-Weihnachtssendung statt. In der ORF-Spendengala wird um Spenden für Sozialhilfe- und Behindertenprojekte in Österreich gebeten. Diese werden medienwirksam von Politiker:innen und Prominenten am Telefon entgegengenommen. Bereits im Vorfeld wurde – wie alle Jahr wieder – Kritik an der Veranstaltung geäußert. Menschen mit Behinderungen fordern sogar die Abschaffung von „Licht ins Dunkel“. Angesichts der hohen Spendensumme mag dies für viele Menschen nicht nachvollziehbar sein. Was sind die Hintergründe?
Das Spendenproblem
Am 28. November 2022 veröffentlichte die Plattform „andererseits“ eine Dokumentation mit dem Titel „Das Spenden-problem“. Die Dokumentation setzt sich medienwirksam mit mehreren kritisch zu betrachtenden Aspekten von „Licht ins Dunkel“ auseinander. Unter anderem die Darstellung der Menschen, warum Spenden überhaupt nötig sind und wer von der Sendung sonst noch profitiert.
Tränen, Rührung und Bewunderung
Die jährliche Spendengala am 24. Dezember ist für viele Menschen eine Weihnachtstradition. Im Jahr 2022 wurden bis inkl. 24.12. insgesamt 19.137.673 Euro durch Personen und Unternehmen an die Organisation gespendet. Dies macht „Licht ins Dunkel“ zu der finanziell erfolgreichsten Hilfskampagne Österreichs. Aufgrund der hohen Einschaltquoten prägt die Sendung seit Jahrzehnten das gesellschaftliche Bild von Menschen mit Behinderungen. Insbesondere Darstellungsweise wird von Betroffenen und Expert:innen bereits jahrelang kritisiert.
„Behinderung bekommt durch diese unsägliche Kampagne ein weinerliches, höchst negatives Image, von dem jede/r Abstand halten will. Behinderte Menschen werden nicht als gesellschaftliche Wesen mit Rechten dargestellt sondern als außerhalb der Gemeinschaft stehende hilfeempfangende, voller Dankbarkeit Existierende.“ (Stix, 2011)
Die Sendung arbeitet mit Emotionen, um möglichst hohe Summen zu erzielen und stellt dadurch Menschen mit Behinderungen als Opfer und hilfsbedürftig dar. Prominente und Politiker:innen drücken ihre Bewunderung und Mitleid aus. Emotionale musikalische Untermalung und Tränen gehören zur Show. Diese Form der Darstellung von Menschen mit Behinderungen widerspricht einer würdevollen Berichterstattung. (Pernegger, 2016, S. 82)
Ursula Naue, Expertin im Bereich Disability Studies, sieht als Hauptproblem, dass Behinderung als etwas Schlechtes dargestellt wird. Der Fokus liegt auf den Defiziten der Menschen, darauf was nicht funktioniert. Wie die Gesellschaft diese Menschen behindert, wird nicht behandelt. Um eine inklusive Gesellschaft zu erreichen, sollte der Fokus auf Hindernisse und Barrieren, welche Menschen mit Behinderungen aus dem alltäglichen Leben ausschließen, liegen. (andererseits, 2022)
Bringen wir Licht ins Dunkel
Die scheinheilige Welt von Licht ins Dunkel benötigt eine radikale Wendung. Menschenrechte dürfen nicht von Spenden abhängen und Menschen mit Behinderungen sitzen nicht im Dunkeln! Menschen mit Behinderungen sollten als selbstbestimmte Individuen dargestellt werden, die in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu führen und Entscheidungen zu treffen. In das Zentrum der Aufmerksamkeit sollten Hindernisse und Barrieren in der Gesellschaft rücken. Der Nationale Aktionsplan Behinderung 2022-2030 sieht eine Neukonzipierung der ORF-Spendenaktion „Licht ins Dunkel“ vor. (Bundesministerium, 2022) Es wäre empfehlenswert auf die Kritik zu reagieren und Menschen mit Behinderung in den Prozess miteinzubinden.
Die Dokumentation von andererseits online unter: www.andererseits.org Die Studie „Mediale Darstellung von Menschen mit Behinderung“ online unter: www.rtr.at
Andrea Lehner lebt und arbeitet in Linz und studiert Sozialwirtschaft an der Johannes Kepler Universität Linz.
Quellenangaben:
andererseits. (2022). Das Spenden-Problem. Warum Menschen mit Behinderungen die Abschaffung von Licht ins Dunkel fordern. https://andererseits.org/spendenproblem/
Licht ins Dunkel. (o. J.-a). LICHT INS DUNKEL. Abgerufen 8. Januar 2023, von https://lichtinsdunkel.orf.at/index.html
Licht ins Dunkel. (o. J.-b). LICHT INS DUNKEL – der Verein. Abgerufen 8. Januar 2023, von https://lichtinsdunkel.orf.at/verein102.html
Licht ins Dunkel (o. J.-c). LICHT INS DUNKEL – Projektförderungen 2021/2022. Abgerufen 8. Januar 2023, von https://lichtinsdunkel.orf.at/projektfoerderung102.pdf
Pernegger, M. (2016). Menschen mit Behinderung in österreichischen Massenmedien. Jahresstudie 2015/16. MediaAffairs.
Stix, T. (2011). Was mich behindert: Licht ins Dunkel – behindertenarbeit.at. https://www.behindertenarbeit.at/8957/was-mich-behindert-licht-ins-dunkel/
Dieser Beitrag wurde von Marcel Wolf, Student im Bachelorstudium Sozialwirtschaft, im Rahmen der LVA Österreichische Politik, Schwerpunkt Gleichstellungspolitik erstellt.
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) stellt einen wichtigen Meilenstein dar; Diskriminierung soll bekämpft, und Gleichberechtigung gefördert werden. Ein wesentlicher Akzent wird auf Inklusion statt einfacher Integration gesetzt; niemand darf aus einem Lebensbereich exkludiert werden. In Bezug auf Beschäftigung bedeutet das, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt arbeiten dürfen. (vgl. Essl, 2021, S. 79f) Dennoch sind Menschen mit Behinderungen nicht nur öfter, sondern auch länger arbeitslos als Menschen ohne Behinderung. (vgl. Bruckner, 2019, S. 176)
Zahlen zu Behinderung in Österreich und weltweit
Laut WHO lebten 2019 rund 15 Prozent der Weltbevölkerung mit einer Behinderung. Das entspricht mehr als einer Milliarde Menschen. Einer Erhebung der Statistik Austria zufolge waren es 2015 18,4 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung, die mit einer dauerhaften Behinderung lebten; hochgerechnet 1,3 Millionen Menschen. Wenn man das Bevölkerungswachstum berücksichtigt, waren es 2021 schon 1,7 Millionen. (vgl. Essl, 2021, S. 81) Auch deshalb ist das Thema besonders aktuell.
Herausforderungen
Eines der Ziele der UN-BRK ist es, die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Konkret heißt das, dass ein Mindestmaß an Sonderarbeitswelten, ein inklusiver Arbeitsmarkt und eine dem Bedarf entsprechende Vergütung angestrebt werden soll. Die gegenwärtige Situation ist jedoch eine andere. Menschen mit Behinderungen, die keine Erwerbsarbeit bekommen, sehen sich mit Ersatzarbeitsmärkten und minderwertigen Sonderbeschäftigungsverhältnissen konfrontiert. (vgl. Wegscheider / Schaur, 2019, S. 47)
Trotz fehlender Daten lässt sich anhand eines 2018 veröffentlichen Reports weltweit eine deutliche Benachteiligung für Menschen mit Behinderungen feststellen. Menschen mit Behinderungen im Alter von 15 und aufwärts sind im Vergleich zu jenen ohne Behinderung halb so oft beschäftigt. Weiters ist die Entlohnung von Menschen mit Behinderungen meistens auch geringer. (vgl. Essl, 2021, S. 83)
Nach dem Behinderteneinstellungsgesetz sind in Österreich Unternehmen mit mehr als 24 Mitarbeiter-innen dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen anzustellen. Diese Verpflichtung wird jedoch nur von 22 Prozent dieser Unternehmen erfüllt. Weiters werden Menschen mit Behinderungen, die viel Unterstützung brauchen, nach der Schule oft als arbeitsunfähig erklärt. Das Einzige, was ihnen dadurch noch offensteht, ist die Tagesstruktur. Dort waren 2019 23.000 Menschen mit Behinderungen tätig. Sie erhalten nur ein Taschengeld und haben keinen Anspruch auf eigene Kranken- oder Pensionsversicherung. Für sie gelten auch die gesetzlichen Arbeitnehmer-innenrechte nicht. (vgl. Bruckner, 2019, S. 176)
Nationaler Aktionsplan für Behinderung 2022-2030
Einer Presseaussendung des Behindertenrates zufolge bedeutet der Nationale Aktionsplan (NAP) für Behinderung 2022-2030 eine Verschlechterung der Situation. Trotz positiver Herangehensweisen werden manche wichtigen Gebiete im NAP nicht oder nicht genügend berücksichtigt. Auch im Bereich der Beschäftigung ist das der Fall. Außerdem ist das Budget nicht ausreichend. (Behindertenrat, 2022)
Call for Action
Der österreichische Behindertenrat legte 2019 schon eine Reihe an Empfehlungen für einen inklusiven Arbeitsmarkt vor, unter anderem:
Die Bereitstellung von Maßnahmen der Unterstützten Beschäftigung, sowie etwa persönliche Assistenz am Arbeitsplatz
Die Ausrichtung aller Unterstützungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderung auf die Chance an Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt
Die Gewährleistung von allenfalls notwendigen Lohnkostenzuschüssen an Unternehmen von der öffentlichen Hand
Eine zügige Krisenintervention bei Entstehung von Krisen im Unternehmen, die eine Bedrohung der Beschäftigungsverhältnisse darstellt
Die Bereitstellung und Finanzierung von Sozialökonomischen Betrieben, Beschäftigungsgesellschaften und des Ausbaus der integrativen Betriebe durch die Aktive Arbeitsmarktpolitik des AMS
Auch in Bezug auf Rehabilitation und Wiedereinstieg in den Beruf bietet der Behindertenrat eine Liste von Vorschlägen. (Behindertenrat, 2019) Die Lage scheint sich jedoch durch den NAP 2022-2030 eher verschlechtert zu haben, bevor sie sich hoffentlich zum Besseren wendet. Insbesondere nach dem NAP 2022-2030 scheint die Umsetzung der UN-BRK noch einen weiten Weg vor sich zu haben. Trotz der Dringlichkeit, mit der dieses hoch relevante Thema gehandhabt werden sollte, ist also hier eher von einem Rückschlag zu sprechen. In Österreich sind Menschen mit Behinderungen nur halb so oft beschäftigt wie Menschen ohne Behinderungen. Ersatzarbeitsmärkte sind immer noch geläufig. Es sei hier auf die Vorschläge des Behindertenrates verwiesen, die leider bisher auf taube Ohren stießen.
Marcel Wolf ist Student im Bachelorstudium Sozialwirtschaft.
Bruckner, B. (2019): Umsetzung der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) in Österreich, in: Biewer, G. / Proyer, M. (Hrsg): Behinderung und Gesellschaft. Ein universitärer Beitrag zum Gedenkjahr 2018, Wien: Institut für Bildungswissenschaft, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, University of Vienna, S. 163-179
Essl, M. (2021): Warum Menschen mit Behinderung für Unternehmen eine echte Bereicherung sind, in: Sihn-Weber, A. (Hrsg): CSR und Inklusion. Bessere Unternehmensperformance durch gelebte Teilhabe und Wirksamkeit, Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, S. 79-95
Wegscheider, A. / Schaur, M. (2019): Arbeit und Beschäftigung von arbeitsmarktfernen Menschen mit Behinderungen in Oberösterreich, SWS-Rundschau, 59 (1), S. 46-65