Der ‚behinderte’ Körper ist Gegenstand von Medien, Kunst und Performance und wird in den Disability Arts künstlerisch hinterfragt. Er wirft philosophische Fragen zum Körper in Zeit und Raum auf und verweist gesellschaftspolitisch darauf, inwiefern ‚besondere‘ Körper, Körperbilder und Körperpraktiken Anlass zur Kritik der Verhältnisse bieten. Zugleich wollen wir wissen: ‚Darf‘ das leibliche Empfinden oder schmerzhaftes Erleben von behinderten Körpern öffentlich thematisiert werden oder spielt man damit denjenigen in die Hände, die Leben mit Behinderung für nicht lebenswert halten? Sowohl aus künstlerischer als auch aus aktivistischer und akademischer Perspektive ermöglicht das Thema ‚Körper‘ vielfältige Verbindungen.
Im Anschluss an die ZDS #2 „Abseits und Jenseits des sozialen Modells von Behinderung“ wird mit diesem Call for Papers die Diskussion um Behinderung als sozialem Phänomen fortsetzen. In dem im Kontext der Kritik am Sozialen Modell häufig zitierten Aufsatz von Hughes und Paterson (1997) werfen diese den Vertreter*innen des sozialen Modells vor, den beeinträchtigten Körper im Diskurs um Behinderung zu vernachlässigen und ihn so kampflos den medizinischen Disziplinen zu überlassen. Sie plädieren dafür, den Körper mit in das soziale Modell aufzunehmen und eine Theorie der Beeinträchtigung zu entwickeln, denn „impairment (…) is central to the lives of disabled people. Forms of resistance, and the struggle for bodily control, independence and emancipation, are embodied“ (Hughes & Paterson, 1997, S. 326). Inzwischen besteht weitgehender Konsens, dass eine theoretische Auseinandersetzung mit Behinderung den Körper einbeziehen muss; wie dies geschehen soll, ist jedoch umstritten.
Nach wie vor gibt es kein ausgearbeitetes „social model of impairment” (vgl. Biermann & Pfahl, 2020), aber die Kritik an der Körpervergessenheit des sozialen Models löste eine Debatte um die Frage aus, welcher theoretische Zugang zum behinderten Körper der beste ist. So kritisieren Barnes und Mercer (2003), dass der poststrukturalistische Ansatz erheblich zur Denaturalisierung des ‚besonderen‘ Körpers beigetragen habe. Die Konzeptionaliserung des Körpers als diskursives Produkt von Macht und Wissen führe zum Verschwinden des materiellen Körpers; und indem der Körper ausschließlich als diskursiver Effekt gesehen werde, würden behinderte Menschen zu „largely passive witnesses to discursive practices“ (ebd., S. 86). Hier müssten neue Wege des Verständnisses von Verkörperung gefunden werden, weshalb die Autoren plädieren: „Hence the significance of an eclectic approach that incorporates the subjective experiences or phenomenology of embodiment as well as the power of social discourse in the construction of bodies, while recognizing the broader context within which the body can be known and understood“ (ebd., S. 86).
Unter den britischen Disability Studies Vertreter_innen ist es vor allem Carol Thomas, die sich seit langer Zeit intensiv mit der Frage beschäftigt, wie der ‚besondere‘ Körper in den britischen Disability Studies angesprochen wird. Sie sieht aus den genannten Kontroversen den folgenden Ausweg: „My own view is that a non-reductionist materialist feminism offers the best hope for understanding and explaining disability, impairment effects, and the gendered nature of these” (Thomas, 1999, S. 143). Vor diesem Hintergrund könnte dann eine “non-reductionist materialist ontology of the body” (ebd.) entwickelt werden, die auch „impairment effects“ (Thomas, 2007, S. 180) berücksichtige.
Im Diskurs zum behinderten Körper geht es dabei auch immer um die Art der kulturellen Repräsentation. Hier zeige sich nicht nur, wie Körper für bestimmte Zwecke instrumentalisiert werden, sondern auch, wie gleichzeitig mit dem ‚besonderen‘ der ‚normale‘ Körper hergestellt wird: „It [disability] is in some sense the basis on which the ‘normal’ body is constructed; disability defines the negative space the body must not occupy“ (Davis, 1997, S. 68). Eine zentrale Rolle spielt der Körper auch in dem 2003 von Alison Kafer veröffentlichten Text, in dem sie das Konzept der „compulsory abled-bodiedness“ vorstellt. Orientiert an einem wegweisenden Text von Adrienne Rich, die das Konzept der „compulsory heterosexuality“ (Rich, 2003 [1980]) entwickelte, zeigt Kafer (2003) auf, dass alle gesellschaftlichen Felder nicht nur an einer Zwangs-Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch an einer verpflichtenden „able-bodiedness“ ausgerichtet sind. Robert McRuer schließt sich dieser Sichtweise an und zeigt auf, wie das Zusammenspiel der beiden Systeme den nichtbehinderten Körper und gleichzeitig Heteronormativität produziert: „Able-bodiedness, even more than heterosexuality, still largely masquerades as a nonidentity, as the natural order of things“ (McRuer, 2006, S. 1). Die von ihm entwickelte Crip Theory will verstören bzw. ent-selbstverständlichen, was an sexuellen und körperlichen Ausprägungen als normal gilt und die gesellschaftliche Gleichberechtigung aller Variationen von Körpern und Fähigkeiten erreichen. Dabei spielt der Körper eine wichtige Rolle: „[…] I do not mean to deny the materiality of queer/disabled bodies, as it is precisely those material bodies that have populated the movements and brought about the changes I discuss throughout“ (ebd., S. 32).
Inzwischen zeichnet sich ein Konflikt zwischen den Positionen der „poststructuralist or very sympathetic with poststructuralism“ und den „post-positivist realist“ Vertreter*innen ab (McRuer, 2010, o. S.), in welchem der ‚besondere‘ Körper eine wichtige Rolle spielt. Die benannte Konfliktlinie weist Parallelen zur Butler-Rezeption in den Frauen- und Geschlechterstudien auf: So wird auch hier Vertreter*innen poststrukturalistischer Ansätze vorgeworfen, den Körper bzw. seine Materialität zu vergessen (vgl. Siebers, 2008). Dahingegen arbeiten wiederum andere Autor*innen heraus, dass nicht nur Behinderung sondern auch ‚impairment‘ diskursiv konstruiert wird und gesellschaftlich-historischen Veränderungen unterliegt (vgl. Tremain, 2005).
Im Anschluss an diese anglo-amerikanischen Debatten möchten wir die Frage vertiefen, welche Bedeutung der Körper in der persönlichen Erfahrung, gesellschaftlichen Konstruktion, in Bewusstsein und Identität von Einzelnen und Gruppen und/oder in politischen und gesellschaftlichen Debatten einnimmt. Von Interesse ist insbesondere, welche theoretischen Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Körpers für ein soziales Modell von Behinderung in den deutschsprachigen Disability Studies diskutiert/geführt werden.
Eingeladen sind – sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus künstlerischen und aktivistischen Kreisen – Beitragsvorschläge für die verschiedenen Rubriken der ZDS u.a. zu folgenden Themen und Kontexten:
Körperkonzeptionen
Wie lässt sich der ‚besondere‘ Körper theoretisch fassen? Welche ‚Denkschulen‘ führen zu welchen Ergebnissen? Wie müsste ein soziales (oder anderes) Modell von Behinderung theoretisch angelegt sein, um Beeinträchtigung – also ‚impairment‘ – zu berücksichtigen? Was bedeutet das für Diskurse um A/Normalität? Gibt es eine nichtdiskriminierende Vorstellung von Leid und Behinderung? Wie sind Diskurse um Leid und Behinderung aus Sicht der Disability Studies zu bewerten, bspw. im Kontext der aktuellen Debatten um Sterbehilfe oder um pränatale Diagnostik? Wie diskutieren die Disability Studies das Thema ‚Heilung‘ – auch angesichts zunehmender medizinischer Fortschritte bei einst als ‚unheilbar‘ geltenden Beeinträchtigungen?
Körperbilder
Inwiefern nehmen gesellschaftliche Vorstellungen und Abbildungen von Körpern Einfluss auf leibliche Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen? Wie werden behinderte Körper platziert, sichtbar und unsichtbar gemacht? Mit welchen Sinnen werden diese (synästhetischen, da diskursiven) ‚Bilder‘ vernommen? Welche performativen Akte der Transformation der Wahrnehmung von behinderten Körpern werden in der Kunst, in visuellen Diskursen, in Öffentlichkeit und sozialen Medien hervorgebracht?
Zeit-Körper
In welchem Verhältnis steht der beeinträchtigte Körper zu Zeit und Zeitvorgaben? Wie kann Crip Time bzw. eine Asynchronizität von Eigenzeit und gesellschaftlicher Zeit theoretisiert und analysiert werden? Wie können Körperbewegungen, Behinderungen des Körpers bzw. Verkörperungen von Behinderung gesellschaftliche Vorstellungen verändern? Dazu gehören Fragen nach der Reproduktionsfähigkeit, Körper und Geschlecht aber auch solche nach der Pandemie mit ihrem Krisenmanagement und Triage-Praktiken und einem (neuen?) Bewusstsein für körperliche Verletzbarkeit.
Körper-Technik
Wie gestaltet sich und wie verändert sich das Verhältnis von Körper und Technik? Wie beeinflussen Technik, technische Assistenz und Praktiken des Bio-Enhancements die Sicht auf Behinderung? Von Interesse sind bspw. Körpererweiterungen, -Fertigkeiten und -Beherrschung oder auch der Einsatz technischer Assistenz und Optimierung, die zu veränderten Körpertechniken, Habitualisierungen, kulturellen Körperpraktiken führen.
Die dritte Ausgabe der ZDS wird Mitte 2022 erscheinen. Bei der Einreichung von Artikelideen folgende Fristen beachten:
Einreichung Abstracts | 08.11.2021
Auswahl der Abstracts / Rückmeldung an Einreichende | 22.11.2021
Einreichung des Manuskripts | 11.02.2022
Versendung der Reviews an Einreichende | 15.04.2022
Einreichung der überarbeiteten Manuskripte | 30.06.2022
Rücksendung 2. Feedback an Autor*innen | 31.07.2022
Einreichung der finalen Manuskriptversion | 31.08.2022
Die Abstracts von insgesamt max. 3500 Zeichen bitte als Word-Datei unter Angabe von Namen, Nachnamen, Affiliation und der eigenen Emailadresse per Mail an kontakt@zds-online.de senden. Hinweise zur Manuskriptgestaltung nach Annahme des Abstracts finden Sie unter siehe https://zds-online.org/
Herausgeber*innenteam: Julia Biermann, Mai-Anh Boger, David Brehme, Swantje Köbsell, Rebecca Maskos, Lisa Pfahl
Literatur
Barnes, C., & Mercer, G. (2003): Disability. Polity Press.
Biermann, J., & Pfahl, L. (2020) A Global Monitoring Practice in the Making: Disability Measurement for United Nations Sustainable Development Goal 4 on Inclusive Education. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 31(3), 192-213. https://doi.org/10.25365/oezg-2020-31-3-11
Davis, L. J. (1997). Nude Venuses, Medusa’s Body, and Phantom Limbs: Disability and Visuality. In D. T. Mitchell & S. L. Snyder (Hrsg.), The Body and Physical Difference. Discourses of Disability (S. 51-70). University of Michigan Press.
Hughes, B., & Paterson, K. (1997). The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a Sociology of Impairment. Disability & Society, 12(3), 325- 340. https://doi.org/10.1080/09687599727209
Kafer, A. (2003). Compulsory Bodies. Reflections on Heterosexuality and Able-Bodiedness, Journal of Women’s History, 15 (3), 77-89. https://doi.org/10.1353/jowh.2003.0071
McRuer, R. (2006): Compulsory Able-Bodiedness and Queer/Disabled Existence. In L. J. Davis (Hrsg.), The Disability Studies Reader (2. Ausgabe, S. 301-308). Routledge.
McRuer, R. (2010). Ohne Titel, Vortragsmanuskript. Universität Hamburg.
Rich, A. (2003). Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence (1980). Journal of Women’s History 15(3), 11-48. https://doi.org/10.1353/jowh.2003.0079
Siebers, T. (2008). Disability Theory. University of Michigan Press. https://doi.org/10.3998/mpub.309723
Thomas, C. (1999). Female Forms. Experiencing and Understanding Disability. Open University Press.
Thomas, C. (2007). Sociologies of Disability and Illness. Contested Ideas in Disability Studies and Medical Sociology. Palgrave Macmillan.
Tremain, S. (2005). Foucault, Governmentality, and Critical Disability Theory: An Introduction. In S. Tremain (Hrsg.), Foucault and the Government of Disability (S. 1-25). University of Michigan Press. https://doi.org/10.3998/mpub.8265343