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Das neue Crip Magazine: Disability an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Aktivismus

Von Eva Egermann, Hanna Hacker, Susanne Hamscha

(Foto: eSel.at; Crip Convention 2021, Belvedere 21)

Das in Österreich entstandene Crip Magazine wurde 2011 als Initiative der Künstlerin Eva Egermann ins Leben gerufen. Zwischen 2012 und 2022 erschienen bisher fünf Ausgaben dieses selbstorganisierten Projekts in Print und als barrierefreies PDF online. Druckexemplare wurden bislang in einer Auflage von jeweils 2.000 bis 7.000 Stück produziert, an öffentlichen Orten verteilt und aufgelegt oder als Beilage anderer freier Medienprojekte vertrieben.

Das Crip Magazine verfolgte von Anfang an einen emanzipatorisch-partizipativen Ansatz: Es wollte die historischen Kämpfe der Behindertenrechtsbewegungen in Erinnerung rufen, gleichzeitig aber auch eine kollektive Plattform für die Beiträge von Künstler*innen, Kulturproduzent*innen und Aktivist*innen mit Behinderungen schaffen. Queere und intersektionelle Zugänge prägen den Inhalt mit. Die Zeitschrift beinhaltet ganz diverse Formate; neben den visuellen künstlerischen Arbeiten sind dies Interviews, Essays und viele weitere textuelle Formen. Für die Herausgeberin handelt es sich vor allem um eine „Materialsammlung“, um das vorläufige Festhalten künstlerischer und diskursiver Prozesse, um das Öffentlichmachen von Entwicklungen „im Werden“.

Parallel zur Arbeit an der Publikation organisierte Eva Egermann mehrere sehr spannende Vernetzungsveranstaltungen, Crip Conventions (2017, 2019 und 2021).

Arbeitsprozesse im Blick zurück und nach vorn

2022 fand sich nun im Kontext dieses Netzwerks ein loses Kollektiv zusammen, um das Magazin, das Eva nicht mehr alleine „stemmen“ kann, weiterzuführen und zu klären, ob und wie es mit diesem Projekt weitergeht. Zu dieser Frage der Übergabe und Fortführung haben wir folgendes Gespräch geführt:

Hanna Hacker (H. H.): In den insgesamt zehn Jahren, in denen du immer wieder eine Crip-Magazine-Nummer herausgebracht hast, was hat dich da am meisten „getragen“, was hat dich dranbleiben lassen oder angetrieben?

Eva Egermann (E. E.): Es war circa 2011, als ich so ziemlich in das Feld der Disability Studies eingetaucht bin und das für mich als unglaublich bereichernden, erweiternden und emanzipatorischen Schatz an Theoriebildung entdeckt habe. Ich habe damals das so ziemlich aufgesogen und alles gelesen, was mir unter die Finger gekommen ist, am Anfang vor allem zu der Geschichte der radikalen sozialen Bewegungen um Behinderung in unterschiedlichen Ländern, zum Beispiel Krüppelbewegung und Antipsychiatrie. Diskurse wie „compulsory able-bodiedness“, Ableismus, Disqualifizierung, Diskriminierungsstrukturen und Ungerechtigkeit: Wo kommt das her und welche Antworten gibt darauf aus den interdisziplinären Disability Studies? Die Idee von Normativität galt als eine der wirkmächtigsten Erzählungen der Moderne. Danach habe ich einfach viele Zusammenhänge und Ungerechtigkeiten erkannt und Ableismus bzw. Diskriminierungsstrukturen in auch unmittelbaren Alltagskontexten gesehen. Natürlich vor allem auch in meinem Arbeitsbereich Kunst und Kultur, denn bürgerliche Hochkultur ist von Ableismus durchzogen. Also, ich würde sagen, die Motivation war in erster Linie, dieses Wissen zu teilen, herauszubringen, damit in Kombination Kulturproduktion etwas Neues zu machen. Eine weitere Motivation war es, das Feld an der Schnittstelle von Queer Studies/Disability Studies/Kunst/Kulturproduktion/Aktivismus voranzubringen und an die Radikalität und die Kämpfe zu erinnern. Mit dem Heft wollte ich auch einen gemeinsamen Kontext schaffen und die Beiträge von verschiedenen Kulturproduzent*innen, Autor*innen und Künstler*innen (mit Behinderungserfahrung) aufsuchen und versammeln. Während im Kunstkontext vor allem am Anfang das Magazinprojekt für Verstörung gesorgt hat, erhielt ich im Laufe der Zeit viel positives Feedback von ganz unvorhersehbaren Kontexten, die das Crip Magazine für sich entdeckt haben. Für manche, jüngere Leute war das Crip Magazine auch teilweise eine Art Initiationsmoment, sich kritisch mit Ableismus zu beschäftigen oder in den Disability Studies zu forschen. Zumindest wurde mir das so zurückgemeldet.

H. H.: Was ist oder war für dich ein inhaltliches Highlight der Hefte? Und was ein Highlight im Arbeitsprozess?

E. E.: Da wäre einiges zu nennen. Die Repolitisierung psychischer Gesundheit wurde in der vorletzten Ausgabe thematisiert, die ich in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Wien herausgegeben habe. Das war eine schöne Ausgabe, durch die das das Projekt auch in Wien bekannter wurde. Aber auch andere Schwerpunkte waren besonders, wie zum Beispiel über die Geschichte zweier Pionier*innen im Kampf gegen die Sonderschule um die Jahrhundertwende und die Geschichte von Behindertenorganisationen zu der Zeit. Oder einer Sammlung mehrerer Beiträge die sich mit „crip time“ befassten, im Heft von 2017, und die vielen großartigen künstlerischen Beiträge in allen Ausgaben. Durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Kunstinstitutionen wurden in den letzten Ausgaben vermehrt Fragen von Inklusion und Ableismus in einer von Prekarität und Individualismus geprägten Kunstwelt aufgegriffen. Um nur einige zu nennen. Ein wesentliches Highlight im Arbeitsprozess ist definitiv, wenn die verschiedenen Inhalte der Beitragenden reinkommen und das gemeinsame Heft entsteht. Ein weiterer Höhepunkt ist, wenn man die Inhalte aus dem Heft zum ersten Mal im Layout sieht. Spätestens dann denkt man sich: „Okay, die viele Mühe hat sich ausgezahlt.“

H. H.: Du bist dabei, das Projekt zu übergeben, jetzt stehen wir also in diesem Prozess des Überlegens, was und wie weiter … Wenn du drei „gute Gaben“ weiterreichen könntest, damit das Projekt auch gut weitergeht oder in neuer Form startet, was wären diese drei Gaben?

E. E.: Mut, Gemeinschaftlichkeit und Freude. Das werdet ihr brauchen. Als weitere mögliche Gaben möchte ich Euch einige Methoden, wie beispielsweise „aesthetics of access“ und „elective affinities“ aus dem Crip Magazine mitgeben. Elective Affinities/ Wahlverwandtschaften /Gemeinschaftlichkeit: Wenn man sich den Raum des Crip Magazins als sozialen Raum vorstellt, ist es ein Raum verschiedener Affinitäten und Wahlverwandtschaften (im Donna Harawayschen Sinn). Ziel ist es, Kategorisierungen und Hierarchisierungen entlang unterschiedlicher Binaritäten, Diagnosen und Fähigkeitsstatus nicht weiter zu reproduzieren. Diese Nachbarschaften und Gemeinschaften werden in der vielfältigen Materialität des Magazins sichtbar. So finden wir den Beitrag der Professorin an der Universität Berkeley neben dem Gedicht des Autors, der in einer betreuten Caritas-Werkstatt arbeitet. Die Arbeit des Gugginger Art-Brut-Künstlers neben dem Plakatsujet einer Gruppe von Aktivisten mit Trisomie 21. Der Text eines radikalen Krüppel Autors neben dem Beitrag von Menschen aus der transaktivistischen Szene. Der Beitrag über die amerikanische Crip-Culture-Szene neben einem der Gründer der österreichischen Behindertenrechts- und Independent-Living-Bewegung. Der Beitrag einer Person, die sich als neurodivers identifiziert, neben der Arbeit einer Künstlerin mit Sehbehinderung. Und so weiter. Ziel ist es, Kategorien nicht weiter zu reproduzieren, sondern alle Schubladen für neue Zugehörigkeiten und Nachbarschaften zu öffnen.

Kunst-und-Disabilities-Projekte international

Ein Blick auf andere Projekte, die Kunst und Disabilities verbinden, zeigt uns, wo sich das Crip Magazine international verorten kann. In Großbritannien findet man mit dem Sick Festival seit 2013 ein digitales Archiv von Videos, Podcasts, Blogs und anderen Formaten, in denen die Erfahrungen und Geschichten von Menschen mit Behinderungen festgehalten werden. Angetrieben von der Disability-Community will das Sick Festival Disability durch das Teilen von Wissen und Erfahrungsexpertise in den Fokus öffentlicher Debatten rücken. Dabei setzt das Sick Festival primär auf künstlerische Produktion als Vehikel nicht auf Aktivismus und politischen Diskurs um dieses Ziel zu erreichen, sondern auf künstlerische Produktion: Durch Tanz, Theater, Film, Spoken Word und andere Kunstformen werden Themen mit Disability-Bezug verhandelt und künstlerische Beiträge kommissioniert. Auf der einen Seite soll Kunst die Möglichkeit bieten, Erfahrungen, die nicht in Worte zu fassen sind, authentisch zu vermitteln. Andererseits sollen – ausgehend von der gelebten Erfahrung mit Behinderung – politische Themen und Positionen durch Kunst verhandelt werden.

In den USA gibt es mit dem Disability Visibility Project ein ähnliches Projekt, das zur Sichtbarkeit von Behinderung im öffentlichen Raum beitragen möchte. Das Disability Visibility Project ist eine Online-Plattform, die das kulturelle und mediale Schaffen von Menschen mit Behinderungen dokumentiert, teilt und verbreitet. Begründet wurde das Projekt von Alice Wong, einer Disability-Aktivistin, deren Kommentare in der New York Times, aber auch in der Teen Vogue veröffentlicht werden. Kernstück des Projekts sind Oral Histories, also „verbale Geschichtsschreibung“, d.h. die Aufzeichnung der Leistungen von Menschen mit Behinderungen. Die geschnittenen Interviews sind online abrufbar und stellen somit ein Archiv an Audio-Dokumenten dar, die das Wissen und die Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen festhalten. Diese Dokumente stehen für sich und werden weder weiter kommentiert noch kontextualisiert oder in größere Diskurse eingebettet. Der Fokus liegt ganz auf dem individuellen Erfahren des In-Der-Welt-Seins: Behinderung wird nicht aus einer nicht-behinderten Linse betrachtet und bewertet, sondern es werden das Wissen und die Erkenntnis festgehalten, die durch Behinderung generiert werden. Die Interviews werden alle in der Library of Congress archiviert und finden somit Einzug in die kollektive, nationale Geschichtsschreibung. Der Widerstand gegen die Priorisierung nicht-behinderter Perspektiven und Erfahrungen findet dadurch in der Mitte der Wissensdokumentation statt, was für die Legitimation behinderter Perspektiven signifikant ist und signalisiert, dass diese Perspektiven Bedeutung haben.

Sowohl dem Sick Festival als auch dem Disability Visibility Project geht es darum, dass Behinderung in all ihren Facetten als wertvoll angenommen wird. Das britische Projekt Disability Arts Online schlägt ebenfalls in diese Kerbe und ist fast ein Hybrid der anderen beiden Projekte. Disability Arts Online will Produktionen von behinderten Künstler*innen fördern und bietet durch sein Magazin, einen Blog und Social-Media-Kanäle mehrere Plattformen, um Kunst zu präsentieren und Netzwerke zu bilden. Dabei wird ein möglichst breiter Ansatz verfolgt: Editorials, Kommentare, Rezensionen und Interviews werden ebenso publiziert wie Stellenanzeigen und andere Möglichkeiten der Karriereentwicklung. Auch Disability Arts Online verfolgt einen Community-Ansatz und dokumentiert durch Erfahrungsberichte und künstlerische Produktionen das Wissen, das aus Behinderung gewonnen wird. Durch Kommentare, Interviews und kurze Artikel wird das, was aus der Community kommt, in größere Debatten und Diskurse eingebettet und die Verbindung zwischen Kunst, Kultur und Politik herausgearbeitet.

Und jetzt?

Fragen, mit denen wir uns in unserer Crip-Magazine-Redaktionsgruppe derzeit recht dringlich befassen und die wir im Rahmen der Forschungswerkstatt ans Publikum weiterreichten, lauten:

  • Welche Notwendigkeiten, welche Wünsche an ein Kunst-/Kulturmagazin der Disability Studies im deutschsprachigen Kontext können festgemacht werden?
  • Wie kann das Magazin die Sichtbarkeit von Disability-Kunst und -Aktivismus im deutschsprachigen Raum stärken?
  • Wo bestehen Möglichkeiten zur Bündelung von Ressourcen?

Kontakt:

evamariaegermann@gmail.com

hanna.hacker@univie.ac.at

susanne.hamscha@gmail.com

Weiterführende Links:

https://cripmagazine.evaegermann.com/

https://sickfestival.com/

https://disabilityvisibilityproject.com/

https://disabilityarts.online/