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Öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote!

Sind behinderte Menschen eigentlich ein Teil der Bevölkerung? Oder sind wir Sonderfälle, die manchmal innerhalb, manchmal außerhalb der Gesellschaft leben sollen?

Von Kassandra Ruhm

Bei der DiStA-Forschungswerkstatt am 5. Mai 2023 haben wir – neben mehreren anderen spannenden Themen – wieder einmal darüber diskutiert, wie man an verschiedenen Stellen Barrieren aushebeln könnte und wo es Fördermöglichkeiten für die Inklusion einzelner behinderter Menschen gäbe. Ich habe mich schon so viele hundert Stunden gegen Diskriminierung behinderter Menschen und für gesellschaftliche Gerechtigkeit eingesetzt und werde das auch weiter tun – aber ist das wirklich die Aufgabe behinderter Betroffener und nicht die Aufgabe der politischen Entscheidungsgremien und der ausführenden Organe? Es sollte staatlich finanzierte Stellen geben, die unsere Fachkenntnisse einbeziehen und für den Abbau von Barrieren und Benachteiligungen sorgen, statt behinderten Menschen unbezahlt den größten Teil der Arbeit zuzuschieben.

Zumindest eine staatliche Verpflichtung

Der Staat reagiert bei den allgegenwärtigen Rechtsbrüchen zum Nachteil behinderter Menschen oft viel zu wenig. Während wir selbst wenig Sanktionsmöglichkeiten haben, sondern wie Sisyphos immer wieder Steine hoch rollen gegen Organisationen, die einfach keine Lust haben, ihre Barrieren und Benachteiligungen zu beseitigen. Ich finde, das darf nicht so weiter gehen.

In Deutschland z.B. gibt es keine Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, obwohl die Behindertenrechtskonvention etwas anderes vorgibt. Das ist ein großes Problem. Aber bei allen Institutionen, die mit öffentlichen Geldern gefördert werden, hat die öffentliche Hand eine sehr gute Handhabe, Barrierefreiheit einzufordern. Wenn sie das will. Mit einer handfesten rechtlichen Grundlage: Der Gesetzgeber hat im deutschen Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) unter § 1, Abs. 3 festgelegt:

„Gewähren Träger öffentlicher Gewalt Zuwendungen nach § 23 der Bundeshaushaltsordnung als institutionelle Förderungen, so sollen sie durch Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder vertragliche Vereinbarung sicherstellen, dass die institutionellen Zuwendungsempfängerinnen und -empfänger die Grundzüge dieses Gesetzes anwenden. Aus der Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder der vertraglichen Vereinbarung muss hervorgehen, welche Vorschriften anzuwenden sind.“

Inhalt der Gesetze in Deutschland und Österreich

Barrierefreiheit und der Abbau von Benachteiligungen gehören zu den wichtigen Grundzügen des Behindertengleichstellungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wäre es ein Leichtes, immer wenn jemand öffentliche Gelder beantragt, diese Gelder mit der Auflage zu versehen, dass das jeweilige Angebot barrierefrei nutzbar ist. Ausnahmen und Einschränkungen der Barrierefreiheit könnten individuell beantragt und geprüft werden. Anders herum, als es heute ist: Bisher müssen behinderte Menschen noch zu oft individuell ihre Teilhabe beantragen und mühsam erkämpfen.

Ich gehe davon aus, dass eine ganze Reihe von deutschen Bundesländern die Vorgaben des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes in den Landes-Behindertengleichstellungsgesetzen umgesetzt haben. Und wenn sie es noch nicht in einem aktuellen Landesgleichstellungsgesetz schriftlich fixiert haben, gibt es andere Möglichkeiten, die Forderung zu begründen, dass öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote verwendet werden dürfen. Zum Beispiel wegen eines Diskriminierungsverbotes, wegen der Gleichheit aller Menschen oder wegen anderer Vorgaben der jeweiligen Landesgesetze.

In Österreich gibt es eine ähnliche gesetzliche Vorgabe im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz konkret in § 2, Abs. 1 (Geltungsbereich) in Verbindung mit § 8 (Verpflichtung des Bundes). (Danke an Martin Ladstätter für die Information!)

Ein Beispiel wie es nicht sein darf

Nein, es geht nicht darum, dass fast alle Häuser geschlossen werden müssten, weil wir behinderten Menschen so unglaublich große Forderungen stellen würden. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Bremer „Zentrum für queeres Leben“ befindet sich die Toilette im Keller. Man müsste erst einige Stufen hoch und danach eine lange und enge Treppe heruntersteigen, um sie zu erreichen. Ich habe nie gefordert, dass in dem engen, alten Haus ein Fahrstuhl zur Toilette eingebaut würde. Ich hatte den Eindruck, das wäre nicht mit einem tragbaren Aufwand realisierbar. Aber einen würdevolleren und sichereren Eingang in den unteren Hausbereich hätte ich durchaus gewünscht. Mittlerweile habe ich aufgegeben.

Und dann geht es doch!

Der Eingang in den Veranstaltungsraum des schwul-lesbisch-queeren Zentrums (KCR) in Dortmund, in der Nähe meiner alten Heimat im Ruhrgebiet, hatte früher 1 ½ Stufen. Ab 1993 habe ich mich mit meinem ersten eigenen Rollstuhl immer wieder diese Stufen hoch gequält, um dabei sein zu können. Natürlich habe ich mehrfach für eine Rampe argumentiert. Ohne Erfolg. Einige Zeit später hat das Studierendenparlament der Uni Dortmund entschieden, nur barrierefreie Veranstaltungen finanziell zu unterstützen. Eine dieser Veranstaltungen sollte im KCR stattfinden – und was sag‘ ich Euch? Innerhalb kürzester Zeit haben die Vereinsmitglieder eine Rampe gebaut und die Veranstaltung hat wie geplant dort stattgefunden. Zu mir hat damals jemand gesagt: „Ach, eine Rampe wollten wir doch schon lange haben.“ Aber ich und die anderen Rollstuhlfahrer-innen vor Ort haben nicht als Grund ausgereicht, um diesen Wunsch umzusetzen. Mehrere Jahre nicht. Mit der Bindung der Zuwendung der Uni Dortmund an die Barrierefreiheit hatten wir die Rampe innerhalb weniger Wochen. So wünsche ich es mir auch mit allen anderen Geldern unserer Gemeinschaft, unseres Staates.

Gleiches Recht auf gleiche Teilhabe

Wir behinderten Menschen sind ein Teil der allgemeinen Bevölkerung. Wir sind keine Einzelfälle, keine überraschende Ausnahme, mit der niemand rechnen konnte. Wir sind keine andere Kategorie von Lebewesen und keine Menschen 2. Klasse. Wir haben die gleichen Bürgerrechte, wie die anderen auch. Wenn unser Staat das Gemeinschaftsgeld verwendet, um öffentliche Angebote zu unterstützen, dann müssen diese Angebote tatsächlich öffentlich sein, also allen Mitgliedern der Gemeinschaft offenstehen. So wie es § 1, Abs. 3, des Behindertengleichstellungsgesetzes vorsieht. Sonst sind die öffentlichen Gelder dort falsch eingesetzt. Denn wir behinderten Menschen gehören zur Gesellschaft dazu.

Kassandra Ruhm mit Rollstuhl am Gehsteig und schaut zurück

Kassandra Ruhm referierte bei der 2. DiStA Forschungswerkstatt 2023. Sie lebt in Bremen, Deutschland. Kassandra Ruhm arbeitet als Psychologin und setzt sich in ihrer Freizeit mit Kunst, Artikeln und Veranstaltungen für den Abbau von Vorurteilen und eine gerechtere Gesellschaft ein. Mehr Infos: www.Kassandra-Ruhm.de

Zuerst veröffentlicht als Kolumne bei DIE NEUE NORM: Ruhm, Kassandra (2023): Öffentliche Gelder nur für öffentliche Angebote! Erschienen am 16. Mai 2023 online in: Die Neue Norm – das Magazin für Disability Mainstreaming. https://dieneuenorm.de/kolumne/oeffentliche-angebote/

 

 

MellowYellow – Soziale Wirkung durch Kunst

MellowYellow Interventionen in einer Schule

Von Alfons Bauernfeind (Institut für partizipative Sozialforschung, Wien), über seinen Beitrag präsentiert in der DiStA-Forschungswerkstatt:

Das Projekt MellowYellow verfolgt das Ziel, mit künstlerischen Methoden Diversität, Inklusion und künstlerische Offenheit als selbstverständliche Praxis in Österreichs Schulen zu etablieren. MellowYellow vermittelt in der Tanzkunstszene anerkannte Mixed-Abled Künstler*innen Teams an Schulen, um Aktionstage bzw. Aktionswochen abzuhalten.

Die beiden Formate bestehen aus drei unterschiedlichen Interventionen (Informance, bewegte Gespräche, Resonanztreffen), die darauf abzielen, dass Lehrkräfte und Schüler*innen ihre Einstellungen über Menschen mit Behinderungen reflektieren und neu bewerten. Das Wissen über das Alltagsleben von Menschen mit Behinderungen soll aufgebaut und Unsicherheiten im Umgang abgebaut werden. Dadurch könnten neue und diversere Vorbilder entstehen, da Menschen mit Behinderungen als Führungspersonen wahrgenommen werden. Lehrer*innen entdecken neue künstlerische Methoden, die sie in die Schulpraxis einführen könnten, Schüler*innen finden einen neuen Zugang zu Kreativität und ihrem Körperempfinden.

MellowYellow hat seit 2017 bis zum Ausbruch der Covid-19 Pandemie 3.039 Schüler*innen in 148 Klassen von 80 Schulen erreicht. Um die Corona-bedingte Unterbrechung der Schulaktivitäten produktiv zu nutzen, wurde der Aktivitätsschwerpunkt des Jahres 2020 auf die soziale Wirkungsmessung gelegt.  Es wurde ein Wirkungsmodell (IOOI-Modell nach Phineo, Kurz und Kubek 2017) auf Basis von MellowYellow internen Workshops erstellt und 21 Leitfaden-gestützte Telefoninterviews mit Lehrkräften durchgeführt, die zwischen 2017 und 2020 MellowYellow Interventionen in ihren Schulen erlebt haben. Die Auswertung und inhaltliche Codierung der Interviews erfolgten im Vier-Augen-Prinzip. Sie wurde gemäß der Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) vorgenommen. Neben qualitativen Auswertungen wurden auch frequenzanalytische Auszählungen durchgeführt.

Alfons Bauernfeind studierte (Musik-) Soziologie in Wien. Seit 2013 ist er freischaffender Soziologe und Musiker, Mitbegründer des Instituts für partizipative Sozialforschung (2016) sowie der measury Sozialforschung OG (2018) und Leiter einer Forschungswerkstatt an der FH für Soziale Arbeit Wien (2021). Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziale Wirkungsmessung und partizipative Begleitforschung von sozial- innovativen Unternehmungen.

 

Online Veranstaltung zu Behinderung und Wissenschaft (25. Februar 2021)


Behinderte Wissenschafter*innen stellen immer noch eine Ausnahme in der akademischen Landschaft dar. Auch an der TU Wien, wie an den meisten anderen universitären Einrichtungen in Österreich, wird innerhalb des wissenschaftlichen Personals eher weniger über Behinderung gesprochen. Wenn möglich geben viele diese nicht an und versuchen möglichst ‘trotz der Behinderung’ anstatt ‘mit den Stärken der Behinderung’ dem Produktions- und Leistungsdruck der modernen Wissenschaft standzuhalten. Zusammen mit Dr.in Nicole Brown (University College London) erkunden wir in dieser Veranstaltung unterschiedliche Facetten dieses Sachverhalts.

Die Veranstaltung fand am Donnerstag 25. Februar 2021 statt. Hier können Sie den Vortrag nachschauen: https://www.youtube.com/watch?v=Kel7xwAyEho

Ablauf

16.00 Uhr — 16.30 Uhr — Impulsvortrag “Zu krank und/oder behindert für die Universität?” (Dr.in Nicole Brown, University College London)

16.30 Uhr — 17.10 Uhr — Podiumsdiskussion mit Dr.in Nicole Brown, Dr. Stephanie Zihms (chronically academic), Eva Egerman (Crip Magazine & Disability Studies Austria), Maria Magdalena Fuhrmann-Ehn (TU Wien, Behindertenbeauftragte), Gerhard Neustätter (TU Wien, Behindertenvertrauensperson), Prof. Dr. Johannes Fröhlich (TU Wien, Vizerektor für Forschung, angefragt)

17.10 Uhr — 17.30 Uhr — Offene Diskussion und Abschluss

Informationen: https://exceptional-norms.at/special-kritische-perspektiven/

Fragen bitte direkt an Katta Spiel

katta.spiel@tuwien.ac.at || katta.mere.st

Hertha-Firnberg Scholar TU Wien
Pronouns: they/them (en), nin/nim (de)

Sind Schlichtungen hilfreich bei Diskriminierung?

Die Masterarbeit „Sind Schlichtungen ein erfolgreiches Instrument zur Durchsetzung von Anliegen bei Behindertendiskriminierung“ wurde von Martin Ladstätter im Rahmen des Universitätslehrgangs Menschenrechte/Human Rights eingereicht und wurde nun als Burschüre veröffentlicht. Martin Ladstätter ist langjähriger Aktivist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und wirkte bei der Entwicklung des Bundes-Behindertengleichstellungspakets in einer Arbeitsgruppe der Bundesregierung zur Schaffung des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes mit. Im Rahmen dieser Arbeit wird nachgezeichnet, welche Veränderungen es in den letzten 25 Jahren im Gleichstellungsbereich für Menschen mit Behinderungen gegeben hat und wie es zu diesen gekommen ist.

Die Forschungsarbeit beschäftigt sich insbesondere mit dem Instrument der Schlichtung und ermittelt, welche Faktoren den Erfolg einer Schlichtung beeinflussen.

Folgenden Fragen wird nachgegangen:

  • Von welchen Faktoren hängt die Nutzung des Instruments Schlichtung ab?
  • Welche Faktoren beeinflussen den Erfolg bei Schlichtungen?
  • Ist das Instrument Schlichtung in der Praxis geeignet, Barrieren zu beseitigen?
  • Gibt es eine Änderung der Schlichtungsnutzung im zeitlichen Verlauf?
  • Ergeben sich aus den Erkenntnissen Handlungsvorschläge?

Was wurde ausgewertet?

Rund 2.300 Datensätze von Schlichtungen wurden zur Beantwortung der Fragenstellungen herangezogen. Quellen für die Daten sind das Sozialministeriumservice, die BIZEPS-Schlichtungsdatenbank, öffentlich zugängliche Informationen zu Ergebnissen einzelner Schlichtungen der Behindertenanwaltschaft. Auch Organisationen, die zu einer Verbandsklage berechtigt sind, wurden in die Recherche miteinbezogen.

Einblick in die Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Bezugnehmend auf die forschungsleitenden Fragestellungen, konnte Folgendes ermittelt werden. 1. Es gibt regionale Unterschiede in der Nutzung von Schlichtungen. 2. Die Behinderungsart hat einen Einfluss. Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer stellen die größte Gruppe bei der Einleitung von Schlichtungen dar. 3. Die Wahrscheinlichkeit einer Einigung wird vom Themenbereich der Schlichtung beeinflusst. 4. Auch der Einbezug von Vertrauenspersonen ist ein relevanter Faktor. Es gibt zudem Indizien dafür, dass auch die Beratung im Vorfeld eine Rolle spielt.

Schlichtungen können als geeignetes Instrument zur Beseitigung von Barrieren betrachtet werden, vor allem weil das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (außer bei Verbandsklagen) keinen Anspruch auf die Beseitigung der Barriere vorsieht. Es hat sich gezeigt, dass es viel zu wenig Wissen um die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens und die Gleichstellungsgesetzgebung gibt. Auch gibt es kaum Schlichtungen, die von Menschen ohne Behinderung durchgeführt werden.

Aus den Forschungen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Schlichtungen ein hilfreiches Instrument zur Streitbeilegung sein können. Außerdem zeigt sich eine Notwendigkeit, das Schlichtungsverfahren weiter zu entwickeln. Möglichkeiten zur Weiterentwicklung gebe es zum Bespiel im Hinblick auf die zeitnahe Behandlung des Konflikts oder auf die Möglichkeit, dass die Schlichtungsstelle im Bedarfsfall Lösungsvorschläge vorlegt.

Schlichtungen sind ein lohnendes Forschungsfeld. Es ergeben sich weitere Forschungsfragen, wie zum Beispiel, ob die Unternehmensgröße Einfluss auf die Bereitschaft zur Einigung hat. Es ist wichtig, dass mehr Daten und Statistiken gesammelt werden, um die Wirksamkeit der Schlichtungen überprüfen zu können. Darüber hinaus müssten diese Statistiken im Detail veröffentlicht und barrierefrei zugänglich gemacht werden.

Infos zum Erwerb der Arbeit: https://www.bizeps.or.at/broschuere-helfen-schlichtungen-bei-diskriminierung/