Lisa Maria Hofer (Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz) über ihren Beitrag präsentiert in der DiStA-Forschungswerkstatt:
Das staatliche Schulsystem entstand an der Schwelle zum 19. Jahrhundert und hatte vorwiegend militärische und wirtschaftliche Ziele im Blick. Zudem war es notwendig, in einer komplexer werdenden Welt die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen zu beherrschen. Das unterfinanzierte Regelsystem wurde jedoch vor die Herausforderung gestellt, Schüler:innen zu beschulen, die unter einer Beeinträchtigung litten, was anderer Methodiken bedurft hätte. Die vollständige Durchsetzung der Schulpflicht gelang erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, denn grundsätzlich waren dazu keine Ausnahmen aufgrund einer vorliegenden Beeinträchtigung vorgesehen. Im Laufe des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Schulen, die später als Sonderschulen oder Hilfsschule bezeichnet wurden, die Schüler:innen zusammenfassten, die unter ähnlichen Beschwerden litten. Zu nennen sind dazu zahlreiche Taubstummenanstalten, die Blindeninstitute und die sogenannten Kretinenanstalten[1], letztere waren jedoch mit einer Salzburger Ausnahme in der Habsburgermonarchie als Verwahranstalten konzipiert.
Das Taubstummenunterrichtswesen, wie es die Forschung häufig bezeichnet, nahm ihren ersten Aufschwung im Spanien der Renaissance und fand in Südeuropa immer mehr Anhänger, was schließlich den ersten Höhepunkt in der staatlichen Gründung der Taubstummenschule von Abbé l’Epée in Frankreich hatte. Von dort aus fand die Beschulungsmethode ihren Weg in die Habsburgermonarchie und bildete mit dem Wiener Taubstummeninstitut 1779 den Ankerpunkt für alle Institutsgründungen in der Monarchie: Das Linzer Taubstummeninstitut wurde in Linz 1812 von Michael Reitter, einem Priester, gegründet und besteht in veränderter Form bis heute (2022) als eine Mittelschule unter dem Namen des Gründers. Als die Schule 1812 eröffnet wurde, gab es keine verbindlichen staatlichen Vorgaben für den pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die gehörlos waren. Dennoch war es in Taubstummeninstituten der Monarchie ein ungeschriebenes Gesetz, sich mit der Anstalt in Wien zu vernetzen. Was sich daraus ergab, waren private Initiativen, die oft im Rahmen eines kirchlichen Engagements integriert wurden, was auch auf das Fallbeispiel in Linz zutrifft.
Michael Reitter organisierte den Unterricht anfangs als Nebentätigkeit zu seinem Hauptberuf als Priester und entwickelte die Idee zu seiner Schule aus dem von ihm abgehaltenen Firmunterricht. Später ließ er sich in Wien am Taubstummeninstitut ausbilden und pflegte umfassende Netzwerke zu finanziell-potenten Partner:innen und der Kirche selbst. Außerdem schrieb er ein breit rezipiertes Methodenbuch zum Unterricht von sogenannten Taubstummen, wie er selbst seine Schüler:innen bezeichnete. 1818 übergab er nach einer Versetzung als Priester die Leitung an Michael Bihringer, der die Schule in der pädagogischen Ausrichtung nicht maßgeblich veränderte und weiter die Methode nach Reitter anwenden ließ. Ihm folgte schließlich 1831 Johann Aichinger, der sich vermehrt wissenschaftlich betätigte und auch großen Einfluss im oberösterreichischen Landtag hatte. Zudem leitete er auch das neu gegründete Heim für sogenannte „Kretinen“ in Hartheim. Als Johann Aichinger 1864 verstarb, folgte ihm Johann Brandstätter, der in Berichten als kränklich beschrieben wird und wenig am Institut veränderte und die Leitung bis 1888 innehatte.[2]
Partizipatorischer Ansatz in historischer Forschung
Um die Kategorie Behinderung entsprechend behandeln zu können, und dem Problem der fehlenden Quellen aus der Perspektive der Betroffenen entgegenzuwirken, sollen hier umfassende Vorüberlegungen und Reflexionen darüber angestellt werden, wie eine partizipative Geschichtsforschung aussehen kann und welche Faktoren es im Vorfeld, in der Durchführung zu bedenken gilt.[3]
Primäre Intention des Projekts ist es, Betroffene in die historische Forschung miteinzubeziehen und keine Geschichte über das Phänomen der Behinderung zu schreiben, sondern eine reale Einbindung in die Diskursgeschichte zu schaffen. Mit der Einbindung des OÖ Gehörlosenverbandes, soll verstärkt dessen Perspektive in die historische Forschung zu Gehörlosen eingebracht werden. Es ist für die Teilnahme am Workshop nicht erforderlich, dass die Teilnehmer:innen in der historischen Arbeit geschult, sind, oder umfassendes Vorwissen zum Gegenstand mitbringen, es geht vor allem um ihre persönlichen Erfahrungswelten, die sie mit den vergangenen Ereignissen in Beziehung setzen. Die Leitfrage in der gemeinsamen Arbeit an den Quellen ist: Welche Ähnlichkeiten/Unterschiede kann ich im Vergleich zu meinem Leben feststellen?
Die Teilnahme am Forschungsdiskurs von Betroffen bringt auch die Forschung der angestrebten Dissertation auf ein qualitativ hochwertigeres Niveau und kann in weiterer Folge einer politischen Diskussion als Grundlage dienen, die sich auch in der Gegenwart für Inklusion stark macht. Zunächst ist die Frage zu klären, wann im Rahmen einer historischen Forschung der geeignete Zeitpunkt ist, um Mitforschende einzubeziehen. Unter Mitforschenden wird in diesem Zusammenhang eine Personengruppe verstanden, die von Gehörlosigkeit betroffen ist und durch diese Betroffenheit differenzierte Interpretationsansätze für die historischen Quellen liefern kann. Dies muss erst nach Sichtung und erster Verortung der Quellen sinnvoll sein.[4]
Das Ziel des Teilprojektes der Dissertation ist es, dass der Kreis der Interpretatoren einer historischen Quelle erweitert wird und sogenanntes Systemwissen generiert wird. Durch dieses Systemwissen rund um die Interpretation, soll die Entwicklung und der lebensweltliche Bezug eines historischen Problems gezeigt werden. Dadurch wird eine Systemdarstellung angestrebt, die der Perspektive der Betroffenen einen Part in der Geschichtsschreibung zugesteht.[5]