Die Disability Studies sind ein recht junger Wissenschaftsansatz, der eng mit der Geschichte der internationalen Behindertenbewegung verbunden ist. In den vergangenen 30 Jahren zeigte die internationale „Independent Living“ -Bewegung auf, dass die wirklichen Probleme behinderter Menschen nicht in ihrer individuellen Beeinträchtigung sondern in den ausgrenzenden gesellschaftlichen Bedingungen, dem eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und den massiven Vorurteilen gegenüber Behinderung bestehen. Diese Sichtweise mündete in der Theorie vom sozialen Modell von Behinderung, das in den USA und Großbritannien zur gleichen Zeit von behinderten WissenschaftlerInnen erarbeitet und dem vorherrschenden medizinischen Modell gegenüber gestellt wurde. Nach dem medizinischen Modell ist Behinderung eine individuelle, krankhafte Störung, wohingegen sie im sozialen Modell als gesellschaftliche Konstruktion betrachtet wird. (vgl. Degener 2003) Es wird infrage gestellt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen einer Beeinträchtigung und dem Behindert-Werden gibt. Vielmehr geht das soziale Modell davon aus, dass sich die Erfahrung von Behinderung für verschiedene Menschen, auch wenn sie ganz ähnliche medizinische Ausgangslagen haben, sehr unterschiedlich darstellt. Auch die jeweilige Kultur und historische Epoche haben aus Sicht der Vertreter/innen des sozialen Modells Einfluss auf die Lebenssituation von behinderten Menschen. Die gesellschaftliche Benachteiligung, die mit einer Beeinträchtigung verbunden ist, ist demnach nicht vom Individuum abhängig sondern ist das Resultat gesellschaftlicher Prozesse. Entsprechend muss sich nach dem sozialen Modell nicht der einzelne Mensch sondern die Gesellschaft ändern, damit behinderten Menschen eine uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich wird. (vgl. Waldschmidt 2003)
Die Disability Studies bieten den notwendigen Perspektivwechsel zur Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, indem sie behinderte Menschen zum Subjekt von Wissenschaft machen statt sie, wie bisher üblich, lediglich als zu beforschendes Objekt zu betrachten. (vgl. Priestley 2003) Das heißt: Die Erfahrungen und Sichtweisen behinderter Menschen werden in den Mittelpunkt von Untersuchungen über Behinderung gestellt. Sie werden somit ernst genommen, sichtbar gemacht und dienen als Grundlage für die Entwicklung von Lösungen.
Diese konstruktivistische Sichtweise von Behinderung hat zur Konsequenz, dass Behinderung nicht nur, wie bisher üblich, aus Sicht von Pädagog/innen und Mediziner/innen betrachtet wird. Vielmehr werden zum tiefergehenden Verständnis darüber, wie sich die gesellschaftliche Konstruktion des Phänomens Behinderung vollzieht auch andere wissenschaftliche Diszipline, wie beispielsweise die Anthropologie, Geschichts- und Literaturwissenschaften in die Diskussion um Behinderung mit einbezogen. Aus der Geschichte können wir viel darüber erfahren, wie Behinderung in verschiedenen historischen Epochen gesehen wurde und welche Lebensbedingungen jenen Menschen, die als behindert bezeichnet wurden, in der jeweiligen Zeit zugestanden wurden. Die Kunst und Literatur wiederum ermöglichen uns Einsichten in aktuelle gesellschaftliche Sichtweisen von Behinderung. Die Einbeziehung der Kulturwissenschaften in den Diskurs über Behinderung bietet somit eine große Bandbreite an Forschungsthemen und Erkenntnissen über die Konstruktion von Behinderung.
Obwohl in Deutschland seit über 30 Jahren soziale Erklärungsansätze von Behinderung existieren, hat in Forschung und Lehre bisher kein grundlegender Paradigmenwechsel stattgefunden. Noch immer versteht Forschung behinderte Menschen eher als Objekt denn als Subjekt, d.h. es mangelt an Studien, die die Perspektiven der betroffenen Menschen umfassend einbeziehen und es fehlen entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse, die von Politiker/inne/n und Praktiker/inne/n konkret umgesetzt werden können. Voraussetzung für die Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zugunsten behinderter Menschen ist jedoch, dass Wissen darüber existiert, welche gesellschaftlichen Prozesse behinderte Menschen als ausgrenzend erleben und welche Bedingungen sie benötigen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können – hierüber können behinderte Menschen selbst am besten Auskunft geben.
In den USA und Großbritannien wurden bereits eigene Lehrstühle und an einigen Universitäten bereits eigene Institute für Disability Studies eingerichtet. Auch in Ländern wie Kanada, Australien, Irland, Norwegen und Frankreich werden Disability Studies mittlerweile gelehrt. In Deutschland hat der Diskussionsprozess um Disability Studies dagegen erst vor kurzem begonnen. Im Jahr 2002 wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft „Disability Studies – Wir forschen selbst“ gegründet, deren Mitglieder sich zum Ziel gesetzt haben, die Entwicklung und Implementierung der Disability Studies in Deutschland voran zu treiben. Neben den beiden Tagungen „Der (im)perfekte Mensch“ und „PhantomSchmerz“, die vom Deutschen Hygiene-Museum, der Aktion Mensch und der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt wurden, bot die Sommeruniversität des bifos: „Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken!“ im Jahr 2003 eine weitere Gelegenheit, das junge Wissenschaftsfeld auch in Deutschland bekannt zu machen.
Die 14tägige Sommeruniversität zu Disability Studies, die von mehr als 500 Teilnehmer/innen besucht wurden, zeigte neben vielen inhaltlichen Ergebnissen auch ein enorm hohes Interesse an Information und Austausch. Dieses Bedürfnis greift bifos e.V. nun mit seinem Internet-Angebot zu Disability Studies auf. Wir wollen mit dieser Webseite die Information über diesen Wissenschaftsansatz und die Vernetzung interessierter Menschen unterstützen und somit einen Beitrag zur weiteren Etablierung der Disability Studies in Deutschland leisten. Die Webseite ist bewusst als interaktives Angebot gestaltet worden, um allen Interessierten, die sich aktiv mit Disability Studies beschäftigen die Gelegenheit zu bieten, ihre Literatur, Projekte und Veranstaltungen einem breiten Publikum zugänglich und somit das große Spektrum an bestehenden Aktivitäten „greifbar“ zu machen. Wir freuen uns, wenn Sie einen aktiven Beitrag zu unserem Angebot leisten oder wenn wir Ihnen bei der Suche nach Informationen zu Disability Studies in Deutschland weiter helfen können.
Dr. Gisela Hermes
Projektleiterin im Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter – bifos – e.V.
Literaturangaben:
DEGENER, Theresia (2003): „Behinderung neu denken“ Disability Studies als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland. In: HERMES, Gisela / KÖBSELL, Swantje (Hrsg.): Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken! Dokumentation der Sommeruni 2003. Kassel, S. 23 – 26
HERMES, Gisela / KÖBSELL, Swantje (Hrsg.) (2003): Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken! Dokumentation der Sommeruni 2003. Kassel
PRIESTLEY, Mark (2003): Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise. In: WALDSCHMIDT, Anne (Hrsg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation. Kassel, S. 23-35
WALDSCHMIDT, Anne (2003): „Behinderung“ neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. In: WALDSCHMIDT, Anne (Hrsg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation. Kassel, S. 11 – 22