Der Begriff „Compulsory Able-Bodiedness“ wurde 2002 durch Robert McRuer geprägt und lässt sich ins Deutsche als „Zwang zur (körperlichen) Nicht-Behinderung“ übersetzen. Alison Kafer erweiterte den Begriff hin zu „Compulsory Able-Bodiedness/Able-Mindedness“, also um die Dimension des „Zwangs zur geistigen/kognitiven Nicht-Behinderung“. Außerdem gebraucht wird inzwischen auch die Form „Compulsory Ableness“ im Sinne eines Zwangs zum generellem „Funktionieren“.
Entstanden im Austausch mit queeren und Dis_ability-Rights Communities versucht der Begriff sowohl das von Adrienne Rich 1980 formulierte Konzept von „Compulsory Heterosexuality“ also Zwangs- Heterosexualität sowie das Konzept des gesellschaftlichen Zwangs zum Performieren von Gendernormen von Judith Butler für den Bereich von Nicht_Behinderung fruchtbar zu machen.
Der Zwang zur Nicht-Behinderung wird demnach analog zum Zwang zur Heterosexualität einerseits durch physisch gewaltsame Praktiken und andererseits durch Botschaften über gesellschaftliche Normerwartungen als gesellschaftliche Realität re_produziert. Deutlich spürbar wird dies etwa am Beispiel der Pränataldiagnostik, wenn sich werdende Elternteile gedrängt sehen, zu überprüfen, ob Kinder behindert sein werden und sich gleichzeitig von Darstellungen umgeben sehen, denen nach ein behindertes Kind zu haben, als persönliche Tragödie gilt, die gesellschaftlich hauptsächlich mit Benachteiligungen einherzugehen scheint. Ein weiteres Beispiel für den gesellschaftlichen Zwang zur Nicht-Behinderung ist die kulturelle Ausgangsannahme, der nach alle Menschen, die keine offen sichtbaren Behinderungen haben, automatisch „nicht-behindert“ seien. Eine Annahme, die in vielen Fällen die soziale Isolation von Personen mit „unsichtbaren“ Behinderungen sowie das Maskieren von Behinderungen durch Betroffene und damit oft deren Nicht-Zugang zu benötigten Unterstützungen und Hilfeleistungen bewirkt.
Eine besondere Rolle in der Durchsetzung dieser gesellschaftlicher Normerwartung von Ableness spielt dabei der Begriff der „Normalität“ welcher einerseits als gesellschaftliches Sollziel gesetzt wird und andererseits über den Ausschluss von Behinderung definiert und gleichzeitig faktisch hergestellt wird. Ein Beispiel hierfür ist die räumliche Segregation von behinderten Menschen in Sonderschulen, gesonderten Werkstätten, gesonderten Verkehrsmitteln, gesonderten Therapieeinrichtungen etc. über welche behinderte Menschen nicht nur in ihren Möglichkeiten zu gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe unterdrückt werden sondern über welche Behinderung und behinderte Menschen im Alltag auch unsichtbar und insofern „nicht-normal“ gemacht werden.
„Nicht-Behinderung“ wird also über den Ausschluss von „Behinderung“ als „Normalität“ naturalisiert und gleichzeitig zum gesellschaftlichen Normziel erklärt. „Nicht-behinderte“ Menschen können sich durch die Ausgrenzung von „behinderten Menschen“ als „normal“ definieren und damit auch ihre Dominanz über „behinderte Menschen“ in gesellschaftlichen und politischen Belangen legitimieren.
Kernziele des Begriffs „Compulsory Able-Bodiedness“ für McRuer sind daher das Denaturalisieren und Hinterfragen der scheinbar selbstverständlichen kulturellen Dominanz von Nicht-Behinderung sowie eine Kontextualisierung von Dis_ability und Queerness mit dem Fokus auf gemeinsame widerständige Strategien gegenüber einem gesellschaftlichem Zwangssystem, das auf „Normalität“ als das Anzustrebende/Lebenswerte/etc. setzt und diese „Normalität“ über die Ausgrenzung von queeren sowie behinderten Menschen definiert und herstellt.
Von Aio Per
Dieser Glossareintrag wurde im Rahmen des Seminars Dis/Ability & Gender im MA Gender Studies an der Universität Wien, Sommersemester 2025, unter der Leitung von Eva Egermann und Rahel More erarbeitet.
Quellen:
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