Während der Jahre 1939 bis 1945 versuchten die Nationalsozialisten, Menschen mit Behinderungen, die von ihnen als „lebensunwertes Leben“ eingeordnet wurden, systematisch zu ermorden.
Die Euthanasiemorde des Dritten Reiches sind, so schwierig das auch zu akzeptieren sein mag, in einen weltweiten Diskurs eingebettet, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts meinte, die Erbsubstanz einer Population ließe sich durch entsprechende genetische Maßnahmen, wie z. B. die zwangsweise Sterilisation „Erbkranker“ verbessern. Ab dem Jahr ihrer Machtübernahme führten die Nationalsozialisten zunächst ein rigoroses Zwangssterilisationsprogramm durch, dabei wurden in zwölf Jahren an ca. 400.000 Personen Sterilisationen durchgeführt. In Österreich wurden zwischen 1940 und 1945 mindestens 6.000 Männer und Frauen gegen ihren Willen sterilisiert (Spring 2009).
Die „Ausmerzung minderwertigen Lebens“ wurde von den Nazis bis in die letzte Konsequenz realisiert. Nicht nur die ideologische Verblendung war ausschlaggebend, sondern auch Kosten–Nutzen-Kalküle kamen zum Tragen, wie dies nicht zuletzt die sogenannte „Hartheimer Statistik“ eindrucksvoll und bedrückend unter Beweis stellt (Kammerhofer 2008). Insgesamt wurden im Deutschen Reich allein im Rahmen der „Aktion T4“[1] in etwas mehr als eineinhalb Jahren (Jänner 1940 bis August 1941) über 70.000 behinderte und psychisch kranke Menschen durch Giftgas in sechs eigens eingerichteten Tötungsanstalten ermordet. Im August 1941 wurde die Aktion durch einen Befehl Hitlers offiziell gestoppt – der ausschlaggebende Grund waren vor allem Unruhe, Missstimmung und Proteste von Seiten der Bevölkerung sowie der Kirchen (Kepplinger 2008; Schwanninger/Wegscheider 2012). Die Beseitigung „unwerten“ Lebens wurde aber daraufhin mit anderen Mitteln und mit Duldung bzw. Förderung der NS-Institutionen vor allem in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen durchgeführt. Durch den andauernden Krieg stieg der Bedarf an Krankenbetten und Ressourcen für die Verwundeten. Das medizinische Personal tötete PatientInnen der Heil- und Pflegeanstalten nicht nach einem vorher festgelegten Plan, aber dezentral und dennoch gezielt (Aly 1985: 56f). In dieser Phase, auch „wilde Euthanasie“ genannt, wurden viele Menschen durch medizinische Injektionen, durch medizinische Vernachlässigung oder durch bewusstes Verhungern-lassen getötet. Zudem wurden im Rahmen der Kindereuthanasie, ein Programm das bis zum Kriegsende weitergeführt wurde, behinderte, aber auch verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ermordet (Kepplinger 2008; Häupl 2006). Noch heute sind die Folgen dieser Verbrechen spürbar. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten gab bzw. gibt es in Deutschland und Österreich nur eine verschwindend geringe Zahl von behinderten Menschen, die vor 1945 geboren wurden.
Von Angela Wegscheider
Literatur:
Aly, Götz: Medizin gegen Unbrauchbare. In: Aly, Götz et al. (Hrsg.): Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren. Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Band. 1, Berlin 1985, S. 9–74
Kammerhofer, Andrea: „Bis zum 1. September 1941 wurden desinfiziert: Personen: 70.273“. Die „Hartheimer Statistik“. In: Kepplinger, Brigitte et al (Hrsg.): Tötungsanstalt Hartheim, 2. erweiterte Auflage, Linz 2008, S. 117-130
Kepplinger, Brigitte: Die Tötungsanstalt Hartheim 1940-1945, in: Brigitte Kepplinger/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, Linz 2008, 2. erweiterte Auflage, S. 63-116
Schwanninger, Florian/Wegscheider, Angela: Die Tötungsanstalt Hartheim. In: Bizeps (Hrsg.): Wertes unwertes Leben. Wien 2012, S. 22-33
Spring, Claudia Andrea: Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisationen in Wien 1940 – 1945, Wien 2009
Häupl, Waltraud: Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien. Wien 2006
[1] Nach 1945 wurde diese Mordaktion als „Aktion T4“ bekannt, benannt nach ihrer Berliner Zentrale, einer Villa in der Tiergartenstraße 4.