„Was also wäre, wenn mit Behinderung weniger ein zu bewältigendes „Problem“, sondern vielmehr eine spezifische Form der „Problematisierung“ körperlicher Differenz darstellte?“. (Waldschmidt, 2005, 24) Waldschmidt spricht dabei eine kulturwissenschaftliche Sicht von Behinderung an, welche Behinderung nicht ausschließlich als „individuelles Schicksal oder diskriminierte Randgruppenposition“ (ebd.) kennzeichnet. Neben einer Dekonstruktion des Behinderungsbegriffes, soll auch der Diskurs um den Begriff Normalität eine Rolle spielen. Es ginge um ein „vertieftes Verständnis der Kategorisierungsprozesse selbst, um die Dekonstruktion der ausgrenzenden Systematik und der mit ihr verbundenen Realität“ (ebd., 25) und ein Hinterfragen dessen. Behinderung und Normalität sollen nicht zwei binäre Positionen von getrennten Gruppierungen darstellen, sondern „einander bedingende, interaktiv hergestellte und strukturell verankerte Komplementaritäten,“ (ebd.). Durch das kulturelle Modell lässt sich die Historizität und Relativität von Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozessen erkennen und es zeige auf, dass „die Identität (nicht)behinderter Menschen kulturell geprägt ist und von Deutungsmustern des Eigenen und Fremden bestimmt wird,“ (ebd.). Im Mittelpunkt dieses Modells stehen die Erfahrungen aller Gesellschaftsmitglieder. Behinderung wird als heuristisches Moment genutzt, dessen Untersuchung gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Praktiken hervorbringt. Die Perspektive und der Untersuchungsgegenstand wechseln von den „Menschen als Randgruppe“ zur Mehrheitsgesellschaft (ebd., 25 – 27). „Kritisiert wird eine gesellschaftliche Praxis, die damit beschäftigt ist, homogene Gruppen zu bilden und diese auf der Basis normativer Bewertungen zu hierarchisieren, anstatt die eigene Heterogenität anzuerkennen und wertzuschätzen,“ (ebd. 27). Nicht nur politische Kräfte, sondern auch der Diskurs und die Lebenswelt werden gefordert, den soziokulturellen Wandel zu bewirken, „der notwendig ist, um Behinderung als stigmatisierte Lebenslage zu überwinden,“ (ebd.). Behinderung wäre demnach ein Teil der menschlichen Erfahrung. Die Einstellungen und der Umgang mit Behinderung können uns somit mehr über unsere Gesellschaft lehren und das Ziel ist, dass man Einstellungen und Werte zu der Kategorie Behinderung reflektiert und ändert.
Von Pia Grochar
Waldschmidt, A. (2005). Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? Psychologie und Gesellschaftskritik, 29(1), 9–31.