Udo Sierck: Inklusion – Fortschritt oder Feigenblatt?

Nachfolgender Beitrag ist eine Verschriftlichung des Vortrages von Udo Sierck im Rahmen der Tagung „Alles Inklusion? Gelebte Vision oder Illusion?“ am 28. September 2018 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und wurde vom Autor zur Verfügung gestellt.

In den letzten vier Jahrzehnten kam in die deutsche Behindertenpolitik Bewegung. Die Rede ist von Rechten statt Fürsorge, von Inklusion statt Aussonderung, von Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung. Aber sobald bei genauem Hinsehen sich die angeblichen Veränderungen als nicht stichhaltig erweisen, verschwindet die reale Situation hinter verbaler Verharmlosung: Plötzlich handelt es sich nicht mehr um eine Heimeinweisung, sondern um das Wohnen im stationären Bereich. Die Krücke verwandelt sich in eine Gehhilfe. Aus dem Menschen mit einer geistigen Behinderung wird die Person mit besonderen Fähigkeiten, der Gehörlose mutiert zum Experten für Gebärdensprache, die Rollstuhlfahrerin entpuppt sich als Frau mit eigenen Mobilitätsvoraussetzungen, komplizierte Persönlichkeiten haben spezielle Verhaltensqualitäten. Wem nützt die politisch korrekte Schönrederei? Die Treppen bleiben ein Hindernis, unübliche Kommunikation ist noch immer ein Grund zur Kontaktvermeidung und die Unterbringung in Institutionen bedeutet in der Regel nach wie vor, einen fremdbestimmten Alltag leben zu müssen. Diese Realitäten verlangen nach einer ehrlichen Positionierung, ohne die die Rede von Autonomie und Selbstbestimmung lediglich diejenigen behinderten Personen meint, die gefragten Normen nahe kommen oder sie erfüllen und deshalb mit Varianten der Inklusion rechnen können.

Abzuwarten bleibt, was die Inklusion für jene Menschen bedeutet, die rund um die Uhr auf Pflege oder Assistenz angewiesen sind, die keine Möglichkeiten der üblichen Kommunikation besitzen oder ihren Alltag mit einem Unterbringungsbeschluss in Institutionen verbringen. Zum deutschen Alltag gehört jedenfalls, dass körperlich behinderte  Erwachsene gegen ihren Willen in ein Heim eingewiesen werden, weil das zuständige Amt die Kosten des selbst bestimmten Wohnens im Stadtteil scheut. Die noch weiter gehende Perspektive der Heimunterbringung im Alter wird aus der öffentlichen Inklusionsdebatte ausgeblendet, obwohl sie kein reines ‚Behindertenproblem’ ist und den Fürsorgemarkt der Zukunft darstellt.

Wer sich dem Thema Inklusion satirisch nähern möchte, findet auf einer Inklusionslandkarte beim Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Einträge wie die im April 2016: „Ein Tag im Boulodrom. Einmal im Jahr sind Bewohner und Bewohnerinnen der Alexianer GmbH, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, Gäste der Bouleabteilung der SVD-Klack’09. In diesem Jahr erwarten die Organisatoren über 100 Menschen mit Behinderung sowie Betreuer und Betreuerinnen zu einem Nachmittag mit gemeinsamen Boulespielen sowie einem gemütlichen Beisammensein an der großen Kaffeetafel sowie Abends am großen Grillbuffet.“ Zwei Monate zuvor wirbt eine „inklusive Schülerfirma“ für ihr Café, das „etwa dreimal im Jahr, jeweils drei Tage“ geöffnet ist, mit dem Zusatz: „Das Café ist nur begrenzt barrierefrei. Bitte fragen Sie nach!“ Es darf gelacht werden. Nur dumm an diesen Vorzeigeprojekten: Sie sind wirklich ernst gemeint. Zu fragen wäre deshalb: Wer hat an der Uhr gedreht? Denn solche Berichte finden sich genauso vor vierzig Jahren unter dem Etikett angeblicher Normalisierung und Integration und hatten seiner Zeit noch die Empörung der Krüppelbewegung über die Verlogenheit der Sozialpartner provoziert. Weil es gegenwärtig still bleibt, wenn wie in diesen Beispielen die traditionellen Formen der Entmündigung umstandslos als Inklusion verkauft werfen, drängt sich die Frage auf: Ist die Mitarbeit behinderter Personen mit emanzipatorischen Idealen in diversen halbstaatlichen Gremien nach dem anfänglichen Aufbegehren schon (oder noch) als Widerspenstigkeit zu werten? Es bleiben Zweifel. Berechtigte Forderungen zu stellen und gleichzeitig honorierte Anpassungsleistungen an das gesellschaftlich Vorhandene zu vollbringen, ist kein Widerspruch. Widerspenstigkeit hat viele Facetten, das unreflektierte Ich-will-dabei-sein gehört nicht dazu.

Auf dem ‚Zukunftskongress 2025‘, den die ‚Aktion Mensch‘ im Dezember 2014 in Berlin zur Perspektive der Inklusion veranstaltete, wurde ein Forum von der Moderatorin mit der Aufforderung eröffnet: „Alle, die eine Brille tragen, gehen auf die linke Seite, die anderen bitte nach rechts.“ Gefolgt von der Ansage: „Alle, die schnarchen, bitte nach links, die übrigen bleiben stehen.“ Und so weiter. Als ob das Tragen von Sehhilfen oder die Tonlage des Schnaufens zentrale Probleme der Inklusion seien. Dass solche launigen Spielchen eine unzulässige Verharmlosung von real existierenden Erfahrungen und Erkenntnissen beinhalten, hat die politische Behindertenbewegung schon vor vierzig Jahren kritisiert. Dies haben selbst einige professionell Tätige verstanden, aber es scheint, als ob nachhaltige Lernerfolge sehr lange Zeit brauchen.

Der oft vernachlässigte Artikel 8 der UN-Konvention sollte in den Mittelpunkt rücken. In diesem Artikel unter der Überschrift ‚Bewusstseinsbildung‘ geht es um den Abbau von Klischees, Vorurteilen und abwertenden Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen. Die Anerkennung und Förderung von Rechten und die Achtung der Würde wird hervorgehoben. Gelingt in diesem Sinne eine Veränderung im Denken – was immerhin nicht auszuschließen ist -, bleibt das Wirken für inklusive Ansätze nicht länger das Interesse einer Minderheit der irgendwie Beteiligten.

Tatsache ist aber, dass die aktuelle Struktur der Behindertenhilfe mit dem Ideal der Inklusion nicht kompatibel ist. Denn – so analysiert der Freiburger Professor für Heilpädagogik Jens Clausen treffend – die „gewachsenen und differenzierten Systeme der sozialen Sicherung sind von ihrer Anlage her nicht auf Inklusion, sondern auf immer wieder neu zu prüfende Bescheide und Exklusionen ausgerichtet. Klassifikation, Segregation, Gewährung oder (möglichst) Ausschluss von Leistungen sind die grundlegenden Prinzipien, die Verweisung an die Zuständigkeit anderer Leistungsträger ihre alltägliche Praxis, nur schwer zu durchschauende Grade von ‚Schwerbehinderung‘ ihre Ausdrucksform.“ Behinderte Kinder, Frauen und Männer werden bürokratisch exkludiert. Die Macht liegt bei den Institutionen – und jenen, die dort arbeiten.

Fast ein Drittel der Deutschen stimmte in einer Untersuchung unter der Leitung Wilhelm Heitmeyers an der Universität Bielefeld  tendenziell der Aussage zu, dass die Gesellschaft sich Menschen; die wenig nützlich sind, nicht mehr leisten kann. Und der Vorgabe ‚Für Behinderte wird in Deutschland zu viel Aufwand betrieben’ stimmten 2011 immerhin 7,7 Prozent der Befragten zu, die Aussage ‚Viele Forderungen der Behinderten finde ich überzogen’ fanden 11,3 Prozent der Interviewten richtig.11) Bemerkenswert an diesen Daten einer Langzeitstudie ist, dass die Prozentzahlen seit Ausrufen der Inklusion steigen. Ganz offensichtlich geht  die Furcht vor dem eigenen sozialen Abstieg mit der Meinung einher, die ‚sozial Schwachen’ sollten endlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

In einem Essay über Fragen der Gerechtigkeit benennt die Philosophin Martha Nussbaum von der Universität Chicago Themen, die sie als „Grenzgebiete“ sieht. Dazu zählt Nussbaum „die Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen physischer und kognitiver Natur. Auf diese Personen passen die alten Theorien einfach nicht, da sie die Menschenwürde allzu oft an der Vernunft festmachten; auch stützten sie sich auf den Gedanken einer Kooperation zum ‚beiderseitigen Vorteil‘. Und mit diesem Gedanken im Hinterkopf ist es schwer zu sehen, was wir durch eine umfassendere Einbeziehung von Behinderten zu ‚gewinnen‘ hätten.“14) Nussbaum lässt diesen Gedankengang in ihrem von der ‚Zeit‘ publizierten Aufsatz unkommentiert stehen. Für die Idee der Inklusion ist er eine Provokation. Eine Provokation allerdings, die formuliert, was – so ist zu befürchten  – nicht nur Wenigen im Hinterkopf herumschwirrt: Welchen Nutzen soll die Inklusion haben, wenn manche behinderte Menschen keinen anerkannten Gegenwert einbringen ?

Die UN-Behindertenrechtskonvention setzt diesem Nützlichkeitsdenken den Wert der Menschenrechte entgegen, die absolut und unteilbar sind. Aber die ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ hat immerhin seit 1948 Geltung. Entweder – so wäre daraus zu folgern – ist diese Erklärung für behinderte Menschen bedeutungslos, so dass eine Sonderkonvention her musste. Oder aber das verbreitete Bewusstsein hat Personen mit Behinderung bis heute nicht als vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert. Vieles spricht für diese Einschätzung. Zur Veränderung von Bewusstseinslagen sind Konventionen und Gesetze wenig geeignet. Sie sind allenfalls hilfreiches Instrument für juristische oder parlamentarische Auseinandersetzungen. Der Alltag verlangt mehr.

Denn die Gegensätze in der Bewertung von Menschen sind bekannt: Willkürlich gesetzte Maßstäbe von Schönheit siegen über Hässlichkeit, Jugend schlägt Alter und intellektuelle Fähigkeiten stehen über Lernschwierigkeiten. Aus dieser Erkenntnis heraus folgt das Fazit, dass bei einer stillschweigenden gesellschaftlichen Übereinkunft für die angeblich berechtigte Dominanz der Kriterien diese zu Ausgrenzung führen müssen.  Anders formuliert: Wenn die Inklusion gelingen soll, müssen diese Vorstellungen nachhaltig korrigiert werden. Danach sieht es nicht aus. Im Gegenteil scheint die Zurichtung, die Versuche der Optimierung der Körper grenzenlos.

Wer bestimmt, ob Inklusion gelungen oder gescheitert ist ? Und wie lässt sich Inklusion denken, ohne die Besonderheit des Anderen zum Verschwinden zu bringen ? Erinnert sei an Theodor W. Adornos Warnung, dass in der Betonung der Gleichheit der Menschen ein unterschwelliger Totalitätsgedanke mitschwingt, dem nur durch die Akzeptanz der Vielfältigkeit und Verschiedenheit zu begegnen sei. Insofern müsste der Inklusionsgedanke akzeptieren, dass Menschen das Gegenteil dieser Idee anstreben: Die Freiheit zum selbst gewählten Ausschluss, zur Exklusion.

Diese Auseinandersetzung und Fragestellung hat immer auch den Integrationsansatz kritisch begleitet. Ich habe vor mehr als zwanzig Jahren formuliert: „Das schöne Wort ‚Integration’ sollte näher betrachtet werden. Alle Integrationsmodelle werden gemacht, und zwar von nicht behinderten Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Fachleuten. Sie bestimmen, welche behinderten Kinder oder Erwachsenen  wann, wo, warum oder überhaupt integriert werden, sie sind es selbstverständlich auch, die beurteilen, ob diese Versuche als gelungen oder fehlgeschlagen gelten. Das Normalitätsdenken, der ständige Konfliktbereich zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen, fällt in den Beurteilungen und Überlegungen einseitig unter den Tisch – wer die Macht der Normalität auf seiner Seite weiß, hinterfragt sie nicht. Als integriert gilt folglich, wer sich so verhält, wie es vorgezeichnet und erwartet wird. Damit übt der unreflektierte Integrationswille einen enormen Anpassungsdruck aus auf die Werte und Normen der Leistung, des Verhaltens oder des Aussehens. Sich dem zu beugen setzt für behinderte Menschen die Verleugnung von Teilen ihrer Identität voraus. Das hat mit gleichberechtigten Möglichkeiten und selbstbewussten Handeln nichts zu tun.“

In diesem Sinne eine Antwort auf die moderne Frage: Wird alles gut, wenn die Inklusion umgesetzt ist? Die Behindertenbewegung hat in ihren Anfängen provokativ behauptet: „Behinderung ist schön!“ Auf die Gegenwart bezogen kann von gelungener Inklusion nur gesprochen werden, wenn die Allgemeinheit behinderte Körper als schön empfindet. Bis dahin aber, so meine ich, ist es noch ein sehr, sehr langer Weg.

Immerhin, erkennbar lustig machen sich über behinderte Personen nur noch wenige. Bei der zu beobachtenden Toleranz frage ich mich im Dorf wie in der Metropole Hamburg: Ruht sie auf der Basis der Akzeptanz oder auf dem Fundament der Gleichgültigkeit? Gleichgültigkeit gegenüber einer Person bedeutet allerdings eine subtile Variante der Missachtung und Entwürdigung, der schwer zu begegnen ist.

Das Wort ‚Selbstbestimmung‘ ist mit der Inklusionsdebatte in der Alltagssprache angekommen. Kein Behindertenfunktionär kommt heute in jedem x-beliebigen Statement darum herum, das Recht auf Inklusion und Selbstbestimmung mindestens drei Mal zu erwähnen. Aber wo ‚Selbstbestimmung’ drauf steht, ist noch längst nicht ‚Inklusion’ drin. Da ist es kaum verwunderlich, das gegenwärtig selbst Sonderschulen oder Werkstätten für behinderte Menschen ihre Praxis der Aussonderung damit begründen, die Ausgesonderten zur Selbstbestimmung  führen zu wollen. Solche Wendungen stellen allerdings die Vorstellungen der politischen Behindertenbewegung auf den Kopf. Aus deren Perspektive ist Selbstbestimmung nicht zu trennen von der kritischen Betrachtung ‚unserer’ Gönner und Helfer mit ihrem fremdbestimmten Handeln. Dem Wort ‚Selbstbestimmung‘ droht die Enteignung und der Verlust emanzipatorischer Ansätze.

Die emanzipatorischen Behinderteninitiativen haben Selbstbestimmung verstanden als ein gemeinsames Ringen, um möglichst die Kompetenz über den eigenen Alltag zu bekommen und dabei über den Tellerrand der Behindertenpolitik hinaus zu blicken. Selbstbestimmung im allgemeinen gesellschaftlichen Verständnis meint heute, sich individuell auch auf Kosten anderer durchzusetzen. Ein anderes Beispiel: Zum Kampf um Selbstbestimmung gehörte auch die Forderung behinderter Frauen, das Recht auf eigenen Nachwuchs zu besitzen. Dieses Ansinnen verknüpfte sich mit der vehementen Kritik an den medizinischen Techniken zur vorgeburtlichen Selektion. Dieses Verständnis von Selbstbestimmung hat sich im allgemeinen Bewusstsein inzwischen umgekehrt. Die selektiven pränatalen Eingriffe verkaufen sich bestens als Angebot zur Selbstbestimmung der individuellen Lebensplanung.  Inklusion hin oder her.

Inzwischen setzt sich bei mir die Erkenntnis durch, dass der Begriff der Autonomie der inflationär und oft widersprüchlich genutzten Rede von der Selbstbestimmung vorzuziehen sei. Unter Autonomie ist die Fähigkeit zu verstehen, die für das Alltagsleben notwendigen persönlichen Entscheidungen zu treffen, sie zu kontrollieren und mit ihnen umzugehen, und zwar im Rahmen der persönlichen Bedürfnisse und Wünsche. Ich höre seit vierzig Jahren den Einwand: „Sie sind intelligent und bei schwerer behinderten Menschen kann Selbstbestimmung nicht funktionieren.“ Falsch. Aber solange das Heer der Assistenten nicht gelernt hat, auf das Heben eines Fingers zu achten oder ein Augenzwinkern zu deuten, gibt es ein Problem. Die Idee vom möglichst selbstbestimmten Leben, von Inklusion ist kein Privileg behinderter Akademiker, andernfalls wäre sie eine hohle Phrase.

Weitgehende Autonomie und Unabhängigkeit sowie die Gewährung notwendiger Hilfen sind Bestandteile der Menschenrechte. Daraus resultiert die Notwendigkeit einer veränderten Blickweise auf assistenzabhängige Personen – weg von den passiven Bedürftigen und hin zu den aktiv Berechtigten. Kinder, Frauen und Männer mit behinderten Körpern und ungewöhnlichen Verhaltensweisen waren und sind in der Öffentlichkeit die Störenfriede einer trügerischen Normalität – Grund genug, sie zu würdigen und sich für sie in diesem Sinne einzusetzen. Damit hätte Inklusion eine fortschrittliche Perspektive.

Literaturhinweise:

Udo Sierck: Budenzauber Inklusion, Neu-Ulm 2013

Udo Sierck: Widerspenstig. Eigensinnig. Unbequem. Die unbekannte Geschichte behinderter Menschen, Weinheim/Basel 2017 (auch als Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin/Bonn 2018)

www.UdoSierck.de

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