Entwicklung(szusammenarbeit)

In der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) nimmt das Thema Behinderung nach wie vor eine Randposition ein (Grech, 2009). Menschen mit Behinderungen werden meist weder in der Planung noch in der Durchführung von Projekten inkludiert oder zumindest mitgedacht.

Auf Initiative einiger Organisationen war es möglich, die Öffentlichkeit in Österreich in den letzten Jahren – trotz Kürzung des ohnehin niedrigen EZA-Budgets – auf die Relevanz des Themas aufmerksam zu machen[1]. Bis zur vollständigen Inklusion von Menschen mit Behinderungen innerhalb der EZA wird allerdings noch viel Zeit vergehen.

Ein Grund für die Ausklammerung könnte darin liegen, dass das Wissen über Behinderung vorwiegend auf Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen in den Geberländern basiert. Oft sind die Möglichkeiten ein selbstbestimmtes Leben zu führen in Ländern des Südens[2] jedoch viel eingeschränkter. Der Umstand, dass die Lebenswirklichkeiten sich meist gravierend von jenen in westlichen Ländern unterscheiden und spezieller Referenz bedürfen, wird nicht berücksichtigt.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem – im Wesentlichen westlich dominierten und geprägten – Diskurs über Behinderung begann erst im Verlauf der letzten Jahre. Obwohl ein Großteil der Menschen mit Behinderungen in Ländern des Südens lebt, gilt als Ausgangspunkt des globalen Diskurses fast ausschließlich die Situation im Westen.
Der Fokus aktueller Publikationen liegt häufig auf der Beschreibung und Kritik dieses paradoxen Umstandes. Die Evaluation der Qualität von Unterstützungsstrukturen für Menschen mit Behinderungen (z. B. CBR) und das nachhaltige Verbesserungspotential dieser sind ebenfalls zentrale Themen der Auseinandersetzung mit Behinderung im globalen Süden. Dabei wird eine hohe Anzahl an quantitativen Daten erhoben und diese in Form deskriptiver Beschreibung publiziert (Singal, 2010). Selten wird dagegen beispielsweise auf die koloniale Einflussnahme oder post-koloniale Gegebenheiten (Grech, 2011; Meekosha, 2011) hinsichtlich aktueller Entwicklungen innerhalb der nationalen Behindertenpolitik (z. B. Implementierung der UNCRPD) eingegangen.

Die Intersektion zwischen Armut und Behinderung hat sich bereits als relevanter Aspekt etabliert. Der Zusammenhang wird allerdings fast ausschließlich auf Basis eines westlich geprägten Verständnisses erläutert. Lokale Gegebenheiten werden meist nur am Rande und wenig explizit als zu berücksichtigend abgehandelt. Die Entwicklung global anwendbarer Erklärungsmodelle steht im Vordergrund (Grech, 2009). Details über die von Land zu Land variierenden komplexen Auswirkungen der sozio-ökonomischen Abhängigkeiten, über die Notwendigkeit mit daraus resultierenden prekären Lebensverhältnissen zurechtzukommen und über die mangelnden Möglichkeiten aus diesen auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, werden ausgeblendet oder nur als Randnotiz angemerkt.  Gerade diese würden jedoch ein Weiterdenken über Behinderung im globalen  Kontext ermöglichen und so auch die Diskurse in den jeweiligen Disziplinen und nationalen Kontexten erweitern.

Faktoren, welche Menschen in unterschiedlichen Ländern und sozio-kulturellen Kontexten behindern, variieren stark. Abschließend bleibt festzuhalten, dass der  globale Diskurs ebenso vielfältig sein sollte wie die sich individuell auswirkenden Faktoren.

Von Michelle Proyer

 

Referenzliteratur:

Barnes, C., & Mercer, G. (2011): Exploring Disability. Second Edition. Cambridge, Malden. Polity Press

Grech, S. (2009): Disability, poverty and development: critical reflections on the majority world debate. In: Disability and Society, Vol. 24(6), 771-784

Grech, S. (2011): Recolonising debates or perpetuated coloniality? Decentring the spaces of disability, development and community in the global South. In: International Journal of Inclusive Education 15(1), 87-100.
Meekosha, H. (2012): Decolonising Disability: thinking and acting globally. In: Disability & Society, 26(6), 667-682
Singal, N. & Aanchal, J. (2012): Repositioning youth with disabilities: focusing on their social and work lives. In: Comparative Education, Vol. 48(2), 167-180.



[1] Stellvertretend für viele sei hier das Engagement der AG Behinderung und EZA der Globalen Verantwortung erwähnt.

[2] In Ermangelung geeigneter Begrifflichkeiten wird die Unterscheidung zwischen sogenannten Entwicklungsländern und industrialisierten/ (weiter)entwickelten Ländern im Folgenden unter Zuhilfenahme der geographischen Verortung definiert. ‚Länder des (globalen) Südens‘ stehen somit für jene, die häufig als (sogenannte) Entwicklungsländer definiert werden. Dem gegenüber stehen jene, gemeinhin als ‚westlich‘ bezeichneten, entwickelten/ industrialisierten Länder. Der Begriff ‚Majority World‘ (vgl. u. a. Grech)/ Mehrheitswelt, der sich auf erstere Gruppe bezieht, scheint in seinem Definitionsanspruch und –umfang besser geeignet, im deutschsprachigen Raum jedoch noch wenig gebräuchlich.